5. Die Ordnung der Welt

Zeit verrint wie Regen. Amirs Zeit verrann wie ein Wasserfall. Al-Mualim hatte sofort auf die Ereignisse reagiert und Maßnahmen getroffen. Ab sofort waren den Schülern unterer Klassen jegliche Kämpfe, und sei es nur alleine zum Zwecke körperlichen Ertüchtigung, außerhalb des Übungsringes untersagt. Weiters hatte er Amirs Kontakt zu den anderen auf jene Unterrichtsstunden beschränkt, in denen es nicht um den Zweikampf ging. Dieses, sowie eine Ausgangssperre des Nachts, erließ er mit der Begründung, wenige Tage vor der Initation älterer Novizen keine Aufregung brauchen zu können.

Doch die Schüler und Lehrer kannten den Wahren Grund: Er hieß Amir. Al-Mualim hatte ihn offiziell zu seinem Novizen erklärt und beteiligte sich damit maßgeblich an der Ausbildung des Jungen. Die Jüngeren unter ihnen verstanden nicht, was der Meister an einem hochnäsigen Zwerg fand, doch die meisten Lehrer erinnerten sich noch zu gut an Al-Mualims letzten Schüler. Es war Cihan gewesen.

 

Seine Tage verbachte Amir seither damit, in einem engen Raum unter den Schülern über Kräuter für die Heilung von Wunden, die verschiedenste Art von Waffen und Strategieplanung zu lernen. Ein wenig Luft verschafften ihn die Stunden, die die anderen mit Hassan verbringen mussten. Amir wurde dann zum Meister gerufen, der es pflegte ihre Konversationen als Lehrstunden der Philosophie zu betrachten. Anfangs hatte der Junge befürchtet, dass dies nur ein besserer Ausdruck für Langeweile sein würde, doch mit der Zeit fand er Gefallen an den Gesprächen, die von rethorischen Angriffen aufeinander geprägt waren.

 

Adalla sah er immer noch beinahe täglich, sie hatte ihm bald nach dem Abend am Fluss besucht um festzustellen, dass sie "verdammt noch einmal" Wert darauf legte zu wissen, was ihre Familie trieb, und er, glücklich wieder mit ihr sein zu dürfen, gab mit seinem Gelernten haltlos an. Dennoch war es nicht mehr wie früher. Er erzähle ihr nicht alles.

Adalla hatte sich gut eingelebt. Sie hatte einige Gewohnheiten von ihren Freundinnen übernommen, die ihn abschreckten. Beispielsweise fing sie an darüber nachzudenken, ob sie gut genug für einen Spaziergang durch die Stadt aussah.

 

Amir überlegte angestrengt, für wen sie gut aussehen wollte, während er die Treppe zu Al-Mualims Büro würdevoll hinaufschritt. Die Wächter nicktem ihm zu, eine stille Ehrerbietung, die Al-Mualim mit Sicherheit von ihnen gefordert hatte. Überhaupt setzte er alles daran das Amir sich wohlfühlte, was dem Jungen mißfiel. Er glaubte einen versteckten Plan hinter den Freundlichkeiten zu erkennen. Der Meister schien ihn nicht wie üblich an seinem Tisch zu erwarten, sondern stand in einer der langen Bücherreihen, die sich links und rechts über die ganze Länge des Raumes erstreckten, und laß. Leise näherte sich Amir. "So nah hinter deinem Rücken, alter Mann. Und ich bin noch ein Kind." dachte er und keuchte. Wessen Gedanken waren dies?

 

Der Meister bewegte sich nicht. "Amir, du bist unpünktlich, warum trödelst du so lange herum?" Immer noch mit Fragen beschäftigt brauchte der Junge einige Sekunden um zu verstehen, dass Al-Mualim längst gewusst hatte, dass er hier war. Der Meister schien Augen im Hinterkopf zu haben. "Meine Schwester, Meister. Sie hielt mich auf." "Immer diese Frauen!" Al-Mualim zwinkerte fröhlich, "Sie bringen uns letztlich um unseren Verstand. Komm," er wandte sich zu dem Tisch und bedeutete Amir ihm zu folgen, "heute möchte ich, dass wir gemeinsam etwas lesen. Dir wird das Buch sicher geläufig sein, deine Mutter war eine Christin. Es heißt Bibel."

Amir zog die Augenbrauen zusammen. "Ihre beliebt zu scherzen, Meister. Was sollte ein Assassine über die Bibel wissen müssen?" "Dass es nur einen Gott gibt, mein Junge." Amüsiert beobachtete Al-Mualim die Verwirrung auf dem Gesicht seines Schülers. "Ihr meint, der Gott der Christen sei DER EINE Gott? Ihr? Wollt ihr mich ins Boxhorn jagen?" "Ich war noch nicht fertig." "Entschuldigt, Herr." Sarkasmus trug Amirs Worte durch den Raum. "Wir werden gemeinsam die Bibel lesen, in der Sprache in der sie einst geschrieben wurde. Dann werden wir den Koran lesen, in der Sprache jener, die ihn einst verfassten. Wir werden die Tora und Schriften aus dem Alten Ägypten studieren. Sie alle werden dich nichts anderes lehren, als dass IHR Gott der EINE ist." Der Meister schlug das Buch auf und studierte die Seiten. "Und was sagt uns das?" Amir dachte nach. Es hatte sich bewährt, kleine Pausen einzulegen, die dramatisch wirkten, um Zeit zu gewinnen. "Dass es keinen Gott gibt?" fragte er schließlich.

"Du besitzt einen regen Geist, Amir. Doch noch ist er nicht auf dem richtigen Wege." Der Meister blickte auf und wie so oft schienen seine dunklen Augen den Geist des Jungen in sich aufzunehmen. "Es gibt keinen EINEN Gott. Es gibt auch keine EINE Wahrheit. Alles was du siehst, alles was du glaubst zu sehen, ist nicht mehr als das Ergebnis deiner Gedanken und Träume. Du erschaffst die Welt um dich selbst, mein Sohn."

Die letzten beiden Worte riefen Erinnerungen wach, denen Amir nicht stattgeben wollte. "Dass heißt, ich kann töten wen immer ich will?" er dachte kurz nach und ergänzte: "Außer ich breche dabei die drei Gesetze." "Richtig. Oder vielmehr fast. Sie sind eine Leitlinie für dein Leben als Assassine, nicht für jenes als Mensch. Diese Regeln kannst nur du bestimmen." Die alten Bretter des Holztisches knarrten verächtlich in der Hitze. Amir massierte seine Schläfen, er hatte plötzlich Kopfschmerzen bekommen. "Soll dass heißen, ein Assassine ist kein Mensch?" Al-Mualim freute sich. Der Junge war brilliant, er stellte genau die richtigen Fragen. "Du siehst nicht gut aus, wir sollten ein andermal fortfahren." entgegnete er. "Aber ich werde dir eine kleine Aufgabe stellen. Denke bis morgen über folgende Worte nach: Nichts ist wahr, alles erlaubt."

 

Gleißendes Licht stach in seine Augen. Er bewegte sich, ein Flügelschlag. Rauschender Wind, er stieg höher. Plötzlich, eine Gestalt, lichtdurchdrungen. Ein schrecklicher Schrei...

Amir öffnete die Augen. Wie lange mochte er geschlafen haben? Das leise Licht der Dämmerung kroch schon durch das Fenster. Der Traum. Er war anders gewesen. So anders, anders...erneut döste der Junge ein.

"Keine Wahrheit..es gibt keine Wahrheit." flüsterte er vor sich hin, als er das nächste mal aufschreckte. Das Zimmer kam ihm seltsam heiß vor. Die Sonne war eben erst aufgestiegen, doch Amir fühlte sich, als würde er inmitten der Wüste auf heißem Sand liegen. Zu abrupt versuchte er aufzustehen und sank schwindelnd auf sein Bett zurück. Langsam ließ er sich wieder in eine liegende Position nieder. Aufstehen war also unmöglich, er konnte nur hoffen, das irgendjemand ihn vermissen würde. Malik konnte es nicht sein, diesen hatte er seit einigen Tagen nicht mehr gesehen.

Adalla war es, die Alarm schlug. Sie hatte am Morgen an dem vereinbahrten Treffpunkt gewartet und als er nicht kam beschlossen ihn zu suchen. Die Wachen gaben erst nach einer Weile genervt ihrem Drängen nach und sie fand ihn schwer atmend, am ganzen Körper schwitzend und doch von Schüttelfrost gebeutelt. Das hatte sie bewogen, für etwas zu sorgen, dass noch nie in der Geschichte der Assassinen vorgekommen war: Sie lief durch die Burg, rannte in das Haupthaus, ließ die völlig überwältigten Wachen hinter sich und stieß beinahe gegen den Meister, der die Treppe herunterkam, um zu sehen was los war.

Das Mädchen hatte Tränen in den Augen, als sich sich an Al-Mualim wandte. "Meister, Amir, er ist krank. Kommt bitte!"

Daraufhin hatte der Alte nach seinen heilerfahrenen Männern rufen lassen und war zu dem Jungen geeilt. Dort konnte er verstehen, was Adalla so in Aufregung versetzt hatte. Amir sah mehr tod als lebendig aus. Sein Körper wurde von Zeit zu Zeit von Krämpfen geschüttelt, aber sein Gesicht blieb ein Abbild von Schmerz. Al-Muher riss die Decke von ihm, untersuchte den Jungen und fand schließlich am Bein, was er gesucht hatte. Auf Amirs dunkler Haut zeichneten sich dunkelfarbige Linien ab. Der Meister fluchte. "Schnell, wir müssen ihn zur Ader lassen! Sein Blut ist vergiftet!"

 

Tag, Nacht, Tag, Nacht, Tag, Nacht. Licht und Dunkelheit flogen an Amir vorüber und er vermochte nicht zu sagen, wie lange schon. Wage Fetzen ferner Gespräche drangen zu ihm durch und hinterliesen ein Echo in dem Tal aus Regungslosigkeit. Fliegen. Er musste fliegen. Einfach seine Flügel bewegen. Sie würden ihn tragen, er musste es nur glauben. Langsam stieg er höher ins Licht und fand sich schließlich in seinem Körper wieder.

 

Mehrere Tage herrschte gebannte Stille an Amirs Bett. Adalla wich keine Sekunde von seiner Seite, doch sie sprach auch kein Wort mit niemanden. Nachts schlief sie, den Kopf auf jene starre Hand gesenkt, die sie tagsüber in ihrer eigenen hielt.

Malik war berührt von diesem Bild. Seit Amir ein Novize war, hatte er begonnen sich von ihm fernzuhalten. Es wurde nicht gerne gesehen, wenn sie ältere Schüler mit den unteren Klassen mischten. Außerdem hatte er sich auf die Initation vorbereiten müssen. Das Ritual...ein kurzer Stich zuckte seine linke Hand entlang.

Vorsichtig hob er Adalla hoch und legte sie auf ein weiteres Krankenbett, bevor er an seinen Freund herantrat. Die Gelehrten hatten Amir viel Blut entnehmen müssen und so mancher hegte Zweifel, dass dies überhaupt einen Sinn gehabt hatte. Malik bangte ehrlich um Amir. Dies war nicht die Erinnerung, die er von dem Jungen mitnehmen wollte, wenn er Maysaf verließ. Es würde nicht mehr lange hin sein, bis er seinen ersten Auftrag erhielt, dann würde er wiederholt ein neues Leben beginnen und mit etwas Pech auch sein letztes.

Malik nahm das Tuch von Amirs Stirn, es war inzwischen trocken geworden. Während er es in Wasser tauchte, um Amir erneut die Stirn zu kühlen, begann er zu sprechen. "Weißt du Amir, eigentlich halte ich dich für einen verdammten kleinen Mistkerl. Immer diese Aufregung. Wäre es nicht einfacher gewesen zu warten, bis deine Ausbildung beendet ist?" Der junge Mann hielt inne, als würde er auf eine Antwort warten. "Jedenfalls, auch wenn manche sich schon die Hände bei dem Gedanken reiben, dass du sanft über den Jordan entschwebst, denke ich gar nicht daran, so etwas von dir anzunehmen. Du musst immer etwas speziell sein, habe ich recht?" Wieder verharrte er. "Bei Allah, bist du heute wieder geprächig!"

 

Hätte Malik gewusst, was in Amir in diesem Moment vorging, hätte er wohl seine Zunge gezügelt. Schon seit Stunden war Amir wieder bei Bewusstsein, doch unfähig sich bemerkbar zu machen. Er hätte es auch nicht getan, wenn er gekonnt hätte. Amir schwebte frei über den Lauf der Zeit dahin. Er war völlig darin versunken, die Ordnung seiner eigenen Welt zu finden.