3. Credo

3. Credo

"Er muss nicht sterben! Wir können ihn ganz einfach für eine Zeit ausschalten!" Kadars Augen blitzten, als er Altair in den Weg trat. Schon seit Tagen hatte der Novize immer mehr den Eindruck gewonnen, dass irgend etwas völlig falsch lief. Ihm war, als wäre der Assassine ein verdrehtes Bild dessen, dass Kadar sich von ihm ausgemalt hatte. Malik hatte von Altairs Ehrhaftigkeit gesprochen, doch davon konnte sein Bruder nichts mehr erkennen.

Der Assassine verhielt sich, als wäre er jedem völlig überlegen. Während die Novizen immer in Tarnhaltungen versanken, wenn Wächter ihren Weg kreuzten, ritt Altair hoch erhobenen Kopfes mitten durch ihre Reihen und löste so eine hektische Flucht aus, die ihnen wie durch ein Wunder jedesmal gelang. Bereits einmal hatte Kadar ihn zur Rede gestellt, doch der Assassine hatte kühl behauptet, das Zweifel nur Ausdruck mangelnder Fähigkeiten sei.

Der Morgen hatte nicht gut begonnen, wie sich herausstellte, war de Sable bereits in Jerusalem eingetroffen und auf dem Weg zum Tempelberg, was die Laune ihres Führers eisig werden ließ. Auf der Reise hatten die Novizen nur wenig über die Vorgänge erfahren können, den Großteil ließ Altair im Dunkeln. Er erinnerte sie lediglich ständig daran, dass seinen Befehlen Folge zu leisten war.

Kaum hatten sie Jerusalems Hauptplatz erreicht, ließ er sich auf einer Bank nieder und schickte die Schüler aus, Informationen zu erlangen. Gerne hätte Kadar Malik wiedergesehen, aber Altair ließ keinen Zweifel daran, dass er den Kontakt mit dem Verbindungsmann vermeiden wollte. Vordergründig gab er Zeitmangel an, doch Kadar spürte, dass mehr dahinter lag. Malik und sein Freund hatten seit Jahren kaum mehr miteinander gesprochen, es schien als ob Altair die Nähe des anderen Assassinen scheute.

Kadar gab sich damit zufrieden, seinem Bruder eine Botschaft zu senden und Altairs Gegenwart für eine Zeit zu entfliehen, er machte sich auf, die Straßen zu erkunden. Anders als seine Mitschüler hatte er bereits als kleiner Junge viel Zeit in der Stadt damit verbracht, ihre Struktur kennenzulernen, wenn er Malik besuchen konnte. Der Ältere hatte nie ein Hehl aus seiner Berufung gemacht und Kadar war fasziniert von seinem großen, starken Bruder, auch wenn dieser durch einen bedauerlichen Arbeitsunfall nicht mehr völlig unversehrt war. Dennoch konnte Malik mit seinem verbliebenen Arm bemerkenswert gut kämpfen und Kadar lernte früh von ihm, mit Waffen umzugehen.

Dies alles führte dazu, dass der Novize sich sicher und zielgerichtet durch Jerusalem bewegte. Informationen zu beschaffen war ein leichtes, wenn man wusste wie. In der wichtigsten Handelsstraße der Stadt boten sich manigfaltige Gelegenheiten dazu. Kadar hatte in den Jahren seiner Ausbildung neben seinen kämpferischen Fähigkeiten vor allem jene Talente vorangetrieben, die er immer schon besaß. Seine klare Auffassungsgabe bescherte ihm eine stets richtige Einschätzung von Menschen und jene, die er nun vor sich fand, kannte er nur zu gut. Händler, Waschweiber und zwielichtige Gestalten schoben sich die Straße entlang, die nicht nur Waren jeder Art sondern auch Neuigkeiten gegen geringen Preis bot.

Schlendert schritt Kadar die Stände ab und lauschte unentwegt den Gesprächen der Leute um sich. Fetzen einzelner Sätze drangen an sein Ohr. "Bitte Herr, ich bin arm und habe Hunger!" "Nur für euch heute die besten Angebote! Kommt und seht her, ich habe alles was ihr braucht!" "...und sie hat ihm doch wirklich gesagt...". Als der Novize an den Waren eines Korbflechters vorbeischritt, vernahm er plötzlich Worte, die ihn aufmerksamer werden ließen. In einer Ecke hinter dem Stand sprachen der Verkäufer und ein weiterer Mann leise, die Blicke immer wieder nervös um sich schweifend. Kadar ging weiter, bog um die nächste Ecke und gelangte an die Rückseite der Mauer, an der die Männer standen. Dort lehnte er sich lässig gegen den Stein und versank in Konzentration.

"Ihr habt dem Templer also den Weg in die Höhle verraten? Woher wollt ihr wissen, dass er immer noch existiert, wir waren seit unserer Kindheit nicht mehr dort unten!" Bis zu seinem Versteck konnte Kadar die Nervosität des Korbmachers riechen, als er dem zweiten Mann antwortete: "Ja sicher, aber er hat mir eine Menge Geld dafür gegeben! Und wenn der Tunnel eingestürzt ist, was solls, dafür kann ich nichts, oder?" "Du hättest sie zu Gabriel schicken können. DIESE Seite des Weges ist völlig sicher!" "Aber der Alte ist verrückt, er wirft mit Steinen um sich! Ich wollte die Herren nicht unnötig mit ihm belasten! Verdammt, dieser irre Priester hat die Höhle schon seit Jahren nicht mehr verlassen! Was denkst du wie er reagiert, wenn Bewaffnete Männer ihn aufsuchen!"

Kadar stieß sich von der Wand ab und bog erneut in die Handelsstraße ein. Es gab also zwei Wege zum Ziel und einer davon war de Sable unbekannt. Der Novize wusste, dass sich dies zu ihrem Vorteil nutzen lassen würde.

Die beiden Männer hatten ihr Gespräch beendet und der Korbflechter war wieder an seinen Stand getreten. Mit einer beiläufigen Geste zeigte Kadar auf einige seiner Arbeiten, die weiter hinten standen. "Jene Ware, kann ich sie mir näher ansehen?" fragte er wie ein interessierter Käufer. "Natürlich, mein Herr, tretet näher! Ich habe Weidekörbe, aber für besonders schwere Lasten möchte ich euch meine neueste Entwicklung aus diesem speziellen Holz.....arrrgh!" Der Mann stöhnte auf, als eine Hand sich um seine Kehle schloss und er gegen die Wand taumelte. Kadar setzte sofort nach. "Versucht euch nicht zu wehren, wir wissen beide, dass es keinen Sinn hätte. Ich habe ein paar Fragen und erwarte mir eine schnelle Antwort, die ihr mir geben solltet, wenn euch euer Leben lieb ist!" Seine Menschenkenntniss hatte ihn erneut nicht getrügt, der Mann war ein Feigling. "Sicher Herr, gerne, immer zu Diensten! Was wünscht ihr zu erfahren?" "Wo befindet sich der Priester Gabriel?" Mit Bedacht hatte Kadar diese Frage gewählt, sie erlaubte es, sein Gegenüber restlos zu verwirren. "Woher wisst ihr von ihm?" "Das spielt keine Rolle, antwortet!" "Gut, gut! Seit Jahren versteckt er sich in einer Höhle unter dem Tempelberg. Er glaubt, Gott hat ihm befohlen dort auf neue Gebote zu warten." "Und wie komme ich zu dieser Höhle?"

Der Korbflechter nahm sich einige Sekunden Zeit, um sich das Gesicht seines Gegners einzuprägen, stellte aber fest, dass er unter der Kapuze des Mannes nichts erkennen konnte. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn und er hoffte zu überleben, wenn er möglichst präzise Auskunft gab. "Ihr folgt einfach dem Verlauf des kleinen Wassers an der Seite des Bergs, die der Stadt abgewandt ist. Die Quelle liegt direkt in Gabriels Höhle, ihr könnt sie gar nicht verfehlen! Aber seid vorsichtig mit dem Alten, er ist ein wenig....sonderbar!" Der Mönch, zumindest nahm der Flechter inzwischen an das sein Angreifer einen solchen darstellte, änderte seine bedrohliche Haltung. "Habt Dank! Ich bin mir sicher, dass dies euch helfen wird, unser Gespräch zu vergessen!" Staunend blieb der Korbflechter mit einigen Münzen zurück und überlegte, ob er sich im richtigen Gewerbe befand.

Altair hatte die Schüler in Eile zu dem Eingang in den Berg getrieben, er ließ weiterhin keine Fragen zu, mahnte sie aber wachsam zu sein. Die ersten Meter der Höhle hatten kein Problem dargestellt, als sie jedoch schließlich eine Biegung erreichten, hinter der sich ein kleiner Felsraum erstreckte, war ihnen der wahnsinnige Gesang eines alten Mannes aufgefallen. Ein vorsichtiger Blick hatte Kadars Annahme bestätigt, dass musste Gabriel sein. Der Novize hatte sich darauf vorbereitet, den bedauernswerten Geisteskranken mit Hilfe eines Betäubungsgiftes außer Kraft zu setzten, doch Altair drängte weiter, er war seinem Ziel zu nahe, um sich von Nebensächlichkeiten aufhalten zu lassen. Mit schnellen Schritten hatte er auf Gabriel zutreten und seine Existenz beenden wollen, als Kadar sich ihm in den Weg stellte. "Er ist unschuldig, Altair! Wir dürfen niemanden töten, der reinen Gewissens ist! Das ist gegen die Regeln!" Der Meisterassassine blieb völlig kühl, auch wenn sein Gemüt beinahe überkochte. "Nichts ist wahr, mein Junge, und alles erlaubt! Eines Tages werdet auch ihr die Bedeutung dieser Worte verstehen!" Verzweifelt versuchte der Novize, Altair zur Besinnung zu bringen. "Aber es ist nicht der Weg den der Meister uns gelehrt hat!"

Gespannt verfolgte Waqqad den Streit. Es war ihm durchaus nicht unrecht, dass Kadar Altair wiedersprach, er erhoffte sich so mehr Gunst bei dem Assassinen zu erwerben, wenn sein Mitstreiter in Ungnade fiel. "Mein Weg ist besser! Es geht nicht darum wie ein Problem gelöst wird, Kadar, die Hauptsache ist DAS es sich löst!"

Zu schnell um aufgehalten zu werden wirbelte Altair um die Ecke und lief auf den Alten zu. Der Atem des Predigers stoppte noch bevor sein Körper, durchstoßen von einem Dolch, den Boden berührte. Waqqad beeilte sich, neben den Assassinen zu treten. "Ein fabelhafter Streich, mein Herr!" verlieh er seiner Heuchlerei Ausdruck. "Ein schrecklicher Fehler!" knurrte Kadar hinter ihm. Altair blieb unberührt, er schien sich nicht erneut auf Diskussionen einlassen zu wollen. "Kadar, ihr kundschaftet vorraus!" sagte er knapp. Einige Sekunden starrten er und der Novize sich in die Augen, bevor der Jüngere nachgab und dem Verlauf der Höhle folgte. Waqqad wollte es ihm gleichtun, wurde aber von ihrem Führer aufgehalten. "Du bist Turfah's Sohn und ich verstehe dein Streben nach Ruhm. Du solltest mir aber einen wichtigen Gefallen tun, Waqqad Ibn al Ashad!" Die Wangen des Jungen glühten eifrig, als er die Chance zu ergreifen glaubte, auf die er gewartet hatte. "Jeden, Altair!" "Hört auf meinen Speichel zu lecken!"

Kadar war schnell zurückgekehrt, obwohl er die Nähe des Assassinen lieber gemieden hätte. Es war Zeit, dass sie diesen Auftrag hinter sich brachten und er sich von Altair entfernen konnte. Unverständlich war ihm inzwischen, wie Malik Freundschaft für einen Mann empfinden konnte, der die Regeln der Bruderschaft derart mit den Füßen trat. Kadar bemühte sich, dem Älteren nicht in die Augen zu sehen, als er Bericht erstattete. "Es ist nicht mehr weit bis zur Haupthöhle! De Sable muss schon dort sein, ich hörte jemanden französisch sprechen!" Altair nickte knapp und schritt voran, überließ es ihnen ihm zu folgen. Der Gang verengte sich zu einer kleinen Öffnung, durch die sie nur geduckt kriechen konnten, ging dann aber in einen riesigen Hohlraum über, dessen feuchte Wände die Echos fremder Stimmen zurückwarfen. Vorsichtig schoben die drei sich näher an den Rand des Vorsprunges, auf den sie getreten waren, und erfassten die Situation.

De Sable war bis auf zwei seiner Männer allein und schien außer sich vor Freude. Grinsend hielt er einen glänzenden Gegenstand hoch, drehte ihn vorsichtig zwischen seinen Fingern und schien mehr mit sich selbst zu sprechen, als mit seinen Wächtern. Sein nobel klingender französischer Akzent erregte Altairs Aggression noch mehr, als der gönnerhafte Ausdruck, der Robert de Sable ständig in der Miene lag. "Endlich haben wir es gefunden! Dieses kleine Artefakt wird unsere größte Waffe für den Frieden im Heiligen Land sein und diese Hunde aus Maysaf werden bekommen, was sie verdienen!"

Mehr musste der Assassine nicht vernehmen, um den nötigen Antrieb für seinen Anschlag zu entwickeln. Flüssig richtete er sich auf, flüsterte "Sein Leben gehört mir!", und schickte sich an, nach unten zu klettern, wurde aber erneut vom Bruder seines Freundes zurückgehalten. Langsam drehte Altair sich um, sein Blick glänzend vor Wut. "Kadar, ihr fangt an mir auf die Nerven zu gehen! Welch moralischer Ansatz ist es diesmal, der euch dazu bringt mir zu widersprechen?" Der Novize war außer sich, nicht länger würde er zulassen, dass alle Werte, die er so hoch hielt, von einem arroganten Biest zerstört wurden. Kadar schrie beinahe: "Es ist nicht unser Auftrag! Al Mualim sagte, der Schatz steht im Vordergrund! Wir müssen abwarten!" Mit einemmal wurde Altairs Haltung stocksteif. "De Sable steht zwischen uns und dem Schatz. Er musst sterben!" "Zurückhaltung, dass ist es, was uns ans Ziel bringt!" "Ihr meint Feigheit!"

Kadars Hände zitterten, als er den geballten Fingern Entspannung erlaubte. Eine seltsame Traurigkeit lag in seiner Stimme. "Altair, ihr habt bereits zwei unserer Gesetze gebrochen! Brecht nicht auch noch das dritte, oder ich kann nicht umhin, den Meister von euren Verfehlungen zu unterrichten!" Ein verzerrtes Lächeln flog über das Gesicht des Assassinen. "Ihr besitzt die selbe Ehrhaftigkeit wie Malik, Novize, jedoch ihm gleich verkennt ihr, mit wem ihr es zu tun habt! Ich stehe in Rang und Titel weit über euch und es ist euch nicht erlaubt, mich in Frage zu stellen! Folgt mir!"

Robert de Sables Ausdruck veränderte sich nicht, als eine Gestalt sich mit den Worten: "Ihr seid nicht allein, dreckiger Templer!" aus den Schatten löste und in das flackernde Licht der Fackeln trat. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis der Bastard sich regen würde und de Sable hatte geduldig gewartet. Wie konnte Al Mualim sich so siegessicher geben, wenn jener, den er seinen besten Mann nannte, so leicht zu durchschauen war? Nicht ohne Grund hatten die Männer des Templers der Suche nach Altair nicht ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet. De Sable wollte, dass der Assassine entkam, nur sollte es nicht zu leicht sein, um keinen Verdacht zu erregen. Ein Hund wie dieser würde jeder kleinen Fährte folgen, die man ihm legte.

Waqqad war dem Älteren sofort gefolgt und so blieb Kadar nichts anderes übrig, als es ihm gleich zu tun. Eher zögernd traten nun auch die beiden Novizen in den Feuerschein, die Hände bereit auf ihre Waffen gelegt. De Sable legte vorsichtig das Artefakt zur Seite, bevor er sich an Altair wandte. "Ah, mein Freund aus Jerusalem! Wie ich sehe seid ihr immer noch wohl auf! Ein Jammer, wie ich behaupten möchte!"

Der Assassine war nicht gekommen, um zu reden. Er spürte, wie Adrenalin in seinen Körper schoss und seine Sicht verschwamm in vertraute Schemen, verlangsamte die Zeit. "Stirb, Templer!" entfuhr es ihm, als er sich auf de Sable stürzte, den linken Arm hoch über sich erhoben. Jahrelanger Hass, die Erinnerung an ihre erste Begegnung, ließ Altair Ibn La Ahad die Beherrschung verlieren. Ohne recht den Winkel einzuschätzen, sprang er wild vor und registrierte im letzten Moment nur am Rande seiner Wahrnehmung, dass Kadar versuchte, ihn zurückzuziehen.

Altairs Blick flog herum und fing sich in den Augen des Novizen, der mit Grauen im Gesicht zusehen musste, wie der Meisterassassine aus dem Gleichgewicht kam, stolperte, und direkt vor de Sable auf die Knie fiel.

Dieser überlegte nicht langte, packte Altairs Arm und schleuderte den Assassinen endgültig zu Boden, um sofort seinen Fuß auf das Genick seines Gegners zu senken und den Druck so weit zu erhöhen, dass eine einzige Bewegung Altairs ausgereicht hätte, um es zum brechen zu bringen. Waqqad hatte sein Schwert gezogen, verharrte aber in angespannter Unbeweglichkeit, als De Sable erneut das Wort ergriff. "Komm nicht näher, mein Junge, oder ich trete zu!"

Einige Sekunden schwebte angespannte Ruhe im Raum, während die Wächter des Templers und die beiden Novizen sich mit gezogenen Waffen gegenüberstanden. Dann sah De Sable auf den Assassinen herab, der seinen Kopf gerade weit genug drehen konnte, um den Blick zu erwiedern. Hingebungsvoll seufzte der Templer. "Wisst ihr, Altair, es ist beinahe eine Schande, wie gütig ich sein kann! Ihr und euer Freund habt meinen Lehrer getötet, ihr dringt in mein Lager ein, verfolgt mich und sucht mich zu vernichten und trotz allem werde ich euch meine Milde beweisen! Natürlich wäre es mir eine Freude, euer jämmerliches Leben zu beenden, doch noch mehr Genuß verschafft mir der Gedanke, wie Al Mualim dies für mich erledigen wird!" Unter der Last des Gewichtes entfuhr dem Assassine ein gequältes Stöhnen, als de Sable sich noch mehr auf ihn stützte. "Ich werde euch gehen lassen und ihr werdet in das Loch zurückkriechen, aus dem ihr gekommen seid! Sagt eurem Meister, dass das heilige Land für ihn verloren ist und dass er rennen soll, so schnell ihn seine Beine tragen! Anderenfalls wird es mir ein Vergnügen sein sie ihm abzuschlagen und als Trophäen über die Tore von Maysaf zu nageln, wenn ich mit ihm fertig bin!"

Vor Altairs Augen begannen dunkle Flecken zu tanzen und er war der Ohnmacht nicht mehr fern, unterband de Sables Fuß doch beinahe seine Luftzufuhr. Aus diesem Grund war er nicht fähig, auf die folgenden Ereignisse Einfluss zu nehmen.

"Jetzt!" schrie der Templer und aus zahlreichen Nischen traten Soldaten hervor. Jene beiden, die die drei Assassinen bemerkt hatten, rissen Altair hoch, schleiften ihn zu dem Eingang, durch den sie zuvor getreten waren, und versetzten ihm einen derben Stoß, als ein seltsamer Knall die Luft zerriss und von den Wänden wiederrollte. Mit einem lauten Ächzen donnerten die Steine über dem Eingang in die Tiefe und einer von ihnen traf Altairs Kopf, als er versuchte, vor der Wucht der felsigen Masse zu fliehen.

Stille und Dunkelheit hüllten ihn ein, als er wieder zu sich kam. Für einige Minuten verweigerte ihm sein Gehirn den Zugriff auf die Erinnerung, schließlich jedoch schossen die Bilder in seinen Kopf. Er hatte versagt, de Sable war mit dem Schatz entkommen und die Schüler......die Novizen! Der Assassine schoss in die Höhe und tastete sich zu dem Wall an Steinen, die zwischen ihm und dem Ort des Geschehens lagen. "Verdammt!" fluchte er. Altair hatte gewusst das es so kommen musste. Nicht umsonst war er niemals bereit gewesen, mit anderen zu arbeiten. Waqqad und Kadar hatten mit großer Wahrscheinlichkeit keine Chance gegen de Sables Männer gehabt und er wagte nicht zu hoffen, dass einer der beiden noch am Leben war.

Schwindel ließ Altair erneut zu Boden sinken und er beschloss, sich kurz auszuruhen und einen Plan zu entwickeln, kam jedoch auf keinen klaren Gedanken. Versagt. Vergeben. Das letzte Mal hatte er sich derart hilflos gefühlt, als er unter der brennenden Sonne der Wüste die Worte eines Niemands laß. Damals, als er selbst noch so verloren schien und der Welt die rechte Ordnung fehlte...

Rasch schüttelte der Assassine den Kopf, um die Erinnerungen los zu werden, die den Schmerz der Wunde, welche der Stein an seiner Schläfe hinterlassen hatte, nur verstärkten. Wie lange mochte er besinnungslos gewesen sein? Inzwischen hätten mehrere Tage vergehen können und alles was jetzt zählte war Zeit. Altair kämpfte sich hoch und begann vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend sich an der Wand der Höhle entlang zu tasten. Selbst wenn er nichts sehen konnte, seine anderen Sinne hatten ihn nicht verlassen.

Als seine Zehen ins Leere stießen, gab er einen kräftigen Pfiff von sich und lauschte den Echos des Geräusches. Vor ihm musste sich ein tiefer Abgrund befinden.

Vorsichtig ging Altair in die Hocke und suchte nach einem Stein. Seine Finger schlossen sich um einen kleinen Kiesel und er schleuderte ihn in die Dunkelheit. Zufrieden hörte er, wie das Geschoss auf einem Vorsprung nicht weit entfernt landete.

Derart begann der Assassine langsam, sich seinen Weg aus der Höhle zu bahnen. Trotz der Schmerzen, die eine gebrochene Rippe in seinem Oberkörper erzeugte, kletterte, robte und kroch Altair durch den Staub unentwegt weiter, bis er ein leichtes Schimmern am Ende des felsigen Tunnels entdecken konnte. Wie ein Wiedergeborener zog er sich die letzten Meter aus der Tiefe nach oben und blieb erschöpft in den Strahlen der Sonne liegen.

Jerusalems Kirchen und Moscheen warfen ein Meer aus blendendem Glänzen auf die Menschen herab, als Altair sich mit größter Anstrengung verborgen durch die Straßen schleppte. Immer wieder musste er einhalten, um zu Atem zu kommen, ein beständiges Stechen in der Brust schnürte ihm die Kehle zu.

Am Tempelberg hatte der Assassine eine Entscheidung getroffen. Trotz allem was geschehen war, wäre Malik verpflichtet gewesen, ihm Schutz zu gewähren, aber Altair brachte es nicht übers Herz, seinem Freund zu begegnen. Er wusste um die besondere Beziehung, die der Verbindungsmann zu Kadar gehabt hatte und scheute sich Malik zu erklären, dass er selbst Schuld am Tod des Bruders war.

So sehr Altair sich seit ihren gemeinsamen Zeiten in Jerusalem auch bemühte, auch für seinen Freund nicht mehr durchschaubar zu sein, Malik war immer treu zu ihm gestanden. Ihre Freundschaft wurde in einer Zeit besiegelt, in der Altair noch nicht einmal geahnt hatte, dass er eines Tages ein berüchtigter Mörder sein würde. Sie war das Produkt eines Ereignisses, dass sein altes Leben zerriss und ihn zu einem neuen Menschen werden ließ, und wahrscheinlich war Malik auch der einzige wahre Freund, den Altair noch hatte. Zu viele Menschen, die ihm nahe waren, wurden Opfer eines Schicksals, dass er sich nicht ausgesucht, es jedoch bereitwillig angenommen hatte.

Malik hatte Altair so vieles gelehrt, für das er aus tiefstem Herzen dankbar war, dennoch hatte er es nie ausgesprochen und der Ältere hatte niemals danach verlangt. Ihr Respekt voreinander brauchte keine Worte, ein jeder konnte in den Gesten des anderen lesen wie in sich selbst.

Um diese Verbindung fürchtete der Assassine jetzt. Malik hatte niemals ein Hehl daraus gemacht, dass er die Launen seines Freundes und viele seiner Taten nicht verstand, akzeptierte sie aber als Ausdruck des Ranges, den Altair innehielt. Er würde allerdings nicht stillschweigend hinnehmen, dass sein Bruder starb, als er versuchte die Pläne eines Meisterassassinen zu durchkreuzen, denn wie Altair selbst war auch Malik kein Freund von Politik. Sie beide wussten, dass für eine große Sache zu sterben meist nicht halb so ehrenvoll war, wie es andere gerne sehen wollten.

Das Büro des Verbindungsmannes stellte also keine Option dar, von persönlichen Gründen abgesehen drängte es Altair zurück nach Maysaf. De Sable hatte so verdammt sicher geklungen, so als hätte er das Assassinenreich bereits unter Kontrolle und Instinkt war es, der hinter diesem Verhalten eine Tatsache erkannte.

Der Templer würde gegen Al Mualim ziehen und wenn er das tat, würde er Maysaf beinahe ungeschützt finden. Die meisten Assassinen waren damit beauftragt, in den Städten für Ruhe zu sorgen und weiter abzuwarten, wie sich der Krieg entwickeln würde. An die Verteidigung der Burg hatte niemand gedacht, lag sie doch fern der Interessen von Kreuzrittern und Sarazenen.

Inzwischen hatte Altair jenes Tor erreicht, an dem sie die Pferde zurückgelassen hatten. Eigentlich hätte er sich nun unauffällig auf eine Bank gesetzt und einen geeigneten Moment abgewartet, um durch die Kontrolle der Wächter zu kommen, aber die Zeit drängte. Die Bewegung seines rechten Armes war stark eingeschränkt, genügte jedoch, um das Schwert wenigstens ansatzweise zu schwingen, während seine linke Hand bereits auf dem Gürtel mit den Wurfmessern ruhte. Altair trat auf den Platz vor dem Tore, legte an Geschwindigkeit zu und erinnerte sich an das eine Credo, dass Ausdruck seiner Lebensweise geworden war: "Ich bin schon tot!"

"Wenn sie nur nicht beide so hübsch wären! Natürlich, Adele ist schlanker als Maria, aber sie haben beide Stil! Wenn ich es geschickt anstelle, könnte ich ja beide....!" die Gedanken des jungen Wächters brachen je ab, als die Scheide eines Schwertes von senkrecht über seiner Schulter tief in seinen Hals fuhr und beinahe den Kopf von den Schultern trennte. Sein lebloser Körper diente dem Angreifer als Möglichkeit zum Absprung und der Assassine schleuderte noch hoch in der Luft den anderen Soldaten seine Messer entgegen. Nur eines von ihnen verfehlte sein Ziel, die anderen bohrten sich in Augen, Kehlen und Bäuche. Altair kam schwer auf dem Grund auf und ignorierte den reißenden Schmerz, der in seiner Seite aufflammte. Der verbliebene Wächter kam auf ihn zugelaufen und zog sein Schwert durch. Nur mit einer schnellen Drehung konnte der Assassine der Schneide entgehen, die Spitze jedoch stach tief in sein Bein.

Unglaubliche Kraft schoss in ihn, als das kalte Stahl sich in sein Fleisch bohrte. Der letzte Rest an Überlebenswillen gab Altair die Kraft, seinen Arm nach oben zu stoßen und den Dolch tief in das Kiefer des Gegners gleiten zu lassen, während er mit der anderen Hand einen harten Schlag gegen die Weichteile ausführte. Zu langsam rollte er zur Seite, als der Wächter zu Boden fiel und brauchte einige Sekunden, um sich von dem Gewicht des Toten zu befreien. Schaulustige hatten bereits einen Kreis um sie gebildet und es würde nicht mehr lange hin sein, bis die Verstärkung der Stadtwache eintraf. Keuchend rannte Altair weiter, stürzte mehrmals und erreichte mit letzter Kraft den Heuwagen, an dem er Shaitan zurückgelassen hatte.

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten stand der Hengst völlig still, als sein Reiter sich mühsam in den Sattel zog, nahm jedoch sofort Geschwindigkeit auf und wandte sich gen Maysaf, als Altair bewusstlos auf seinen Hals niedersank.

Die Verfolger, die verbissen versucht hatten den Assassinen einzuholen, gaben bald auf als sie einsehen mussten, dass das schwarze Pferd der Geschwindigkeit der ihren weit überlegen war. Shaitan benötigte keine Befehle, um zu erkennen, dass er seinen Herrn schnellstens hinforttragen musste. Seine wachen Augen, die dunklen Seen glichen, flogen umher als er eine Weggabelung erreichte. Als hätte er erkannt, dass hier keine unmittelbare Gefahr drohte, blieb Shaitan stehen und bog seinen wohl geformten Hals nach hinten, um seinen Reiter mit den Nüstern zu berühren. Mit den Spitzen seiner Zähne begann er, an Altairs Robe zu knabbern, erwischte schließlich einen kleinen Flecken Haut.

"Ahrg!" stöhnte der Assassine leise, schlug jedoch die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Die Wegweiser, die an der Kreuzung errichtet waren, verrieten ihm, dass sie sich bereits mehrere Meilen von Jerusalem entfernt hatten. Dankbar klopfte Altair seinem Pferd den Hals. "Du hast mich gerettet Junge! Leider kann ich dir jetzt keine Ruhe gönnen!" Shaitan stampfte mit seinen Hufen und stellte klar, dass er noch lange nicht müde war, auch er spürte, dass die Zeit drängte. Der Rückweg nach Maysaf würde quälend werden, aufgrund der besonderen Umstände hatte Altair keine Vorbereitungen dafür treffen können und ohne einen Tropfen Wasser die Wüste zu durchqueren, grenzte zwar an Wahnsinn, schien aber alles was er noch tun konnte, um de Sable rechtzeitig aufzuhalten.

Die Sonne bestieg langsam weiter den Horizont, als die beiden sich im Staub der Wüste ihrem Ziel zuwandten.