7. Geblendet und betrogen

Al-Mualim war aufgebracht gewesen, aber er sah davon ab, allen Beteiligten schwere Strafen zukommen zu lassen. Es wären zu viele gewesen. Der Meister beschränkte sich auf Samut und Amir und gemeinsam mit den anderen Lehrern beschloss er, dass es wohl besser war die beiden für eine Weile voneinander fernzuhalten. Krokut Umat hatte sich bereit erklärt, Samut zu sich zu nehmen und ihm den Umgang mit Pferden anhand harter, dreckiger Arbeit zu zeigen. Was Amir betraf, hielt es Al-Mualim für angebracht, seinen Bewegungsraum auf die Burg zu beschränken, wo er unter der ständigen Beobachtung älterer Assassinen stand. Dem Novizen war es strengstens verboten, die Mauern Maysafs' zu verlassen und zusätzlich fand sich auch für ihn die ein oder andere zermürbende Tätigkeit. Die einzige positive Veränderung seit dem Vorfall lag für Al-Mualim darin, dass sich das Gebahren der Schüler untereinander geändert hatte.

Sie hassten Amir nicht länger, aber sie hatten Respekt vor ihm. Vor ihrer aller Augen hatte er das leidende Tier mit einem einzigem Stoß erlöst und hatte damit weit mehr Rückgrad bewiesen alls der Reiter des unglücklichen Pferdes selbst. Moralisch gesehen war eindeutig Amir der Gewinner des Rennens.

 

Trotzdem hatte es einiger Worte und kleinerer Abreibungen bedurft, bis Özcan klargestellt hatte, dass Amir ab nun anders zu behandeln war. Er bemühte sich ernsthaft, den Jüngeren in die Gruppe zu integrieren und erreichte nach einiger Zeit, dass Amir zumindest an den allabendlichen Zeitvertreiben der anderen Schüler teilnahm. Natürlich wurde nicht mehr von ihm erwartet, als still mit gesenktem Kopf in einer Ecke zu sitzen und Amir hegte auch nicht den Wunsch, mehr zu tun. Aber er hatte sich überzeugen lassen. Özcans Argumente waren gut gewesen.

Schon seit einer Weile wunderte sich Amir über seinen Mitschüler. War er zu Beginn noch einer von jenen gewesen, die andere gegen Amir aufhetzten, hatte Özcan mit der Zeit begonnen, sich ihm anzunähern. Der Junge dachte darüber nach, was ihn wohl dazu bewogen hatte, plötzlich freundlich zu sein, doch konnte keinen offensichtlichen Grund erkennen.

Dieser lag für Özcan auch nicht in der Öffentlichkeit ihres Novizenlebens, vielmehr stellte er eine Art Schattenleben dar, das er führte, wenn er es schaffte, für wenige Stunden völlig unbeobachtet zu sein. Wenn er bei ihr war.

 

Stille war auf der Burg eingekehrt, als sich die Nacht endgültig über sie senkte. Der Meister vertat die Auffassung, dass spätnächtliche Ertüchtigungen jungen Novizen noch nicht zustanden und sah es nicht gerne, wenn sie sich nach dem letzten Wachenwechsel noch in der Burg herumtrieben. Die Schüler wollten ihn nicht verärgern und verlegten ihre Spiele in die Zimmer, doch nach einer Weile wurde es langweilig, sich trotz dem Sieg in einer Wette nicht laut freuen zu dürfen.

Einige von ihnen hatten jedoch nach Gesprächen mit älteren Novizen erkannt, dass Al-Mualim ihnen an sich gar nicht verbot, in nächtlichen Freuden zu schweifen. Er wollte nur nicht, dass sie es auf der Burg taten. So kam es, dass jeder, der nach der "Bettstunde" im Hof bei Tätigkeiten erwischt wurde, eine Strafe erhielt. Wer aber still, schnell und leise die Burg durch eines der Seitentore verließ, wurde von den Wächtern ganz einfach nicht gesehen. Die älteren Assassinen mochten jetzt würdig und ehrenvoll durch die Welt schreiten, doch auch sie hatten eine Jugend durchlebt. Ein Rudel Jungen mitten in der Adoleszenz in einer Burg einzusperren, wäre ein Garant für weitere Schwierigkeiten gewesen.

 

Özcan hatte sich die Sache gut überlegt. Amir würde schwer zu überzeugen sein, sich dem Befehl des Meisters zu widersetzten, trotzdem war es die einzige Möglichkeit die Özcan einfiel, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Langsam wurde das Ganze etwas kompliziert, eine wahre Herausforderung. Warum er sie annahm, wusste der Novize nicht wirklich. Er wusste nur, dass Adalla ihm ben Schlaf raubte und er sie unbedingt wiedersehen wollte, um jeden Preis. Auch wenn das bedeutete, dass er dafür Amir in Schwierigkeiten bringen musste.

Im Moment kam Özcan sein Plan gar nicht so schlecht vor, als er durch den Gang huschte und Nuhzah hinter sich herzog. Schon zu seiner Zeit als neuer Novize war es üblich gewesen, den älteren Schülern Dienste zu erweisen, wenn man nicht danach trachtete sein Berufsleben in den Gassen einer Stadt wie Akkon oder Damaskus mit einem Messer im Rücken zu beginnen. Schließlich war Maysaf eine Schule für Mörder. Hatte Özcan sich damals haltlos über diese Tatsache geärgert, nutzte er sie nun unbarmherzig für sich aus. Seine Wahl war auf Nuhzah gefallen, weil dieser behauptet hatte, er würde Amir Ibn La-Ahad in nichts nachstehen und Özcan verlangte nun von ihm, dies auch zu beweisen.

Leise klopfte er an Amirs Tür und stieß sie hastig auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Sogleich verschloss er sie wieder und befahl Nuhzah sich nicht von der Stelle zu rühren. Amir stand aufrecht am Fenster, wie immer wenn Özcan das Zimmer betrat. Es war als wüsste er schon Momente vorher, dass sein Bruder zu ihm kommen würde. "Friede sei mit dir, mein Freund." begann Özcan mit seinen üblichen Worten und er erhielt genau jene Worte zurück, die er immer vernahm. "Wir sind keine Freunde, sondern Brüder. Das macht einen entscheidenden Unterschied." Der Ton ließ Özcans Zuversicht etwas sinken. Amir war schlecht gelaunt und das machte es bei weitem nicht einfacher.

"Du hast recht. Und als Bruder bin ich zu dir gekommen." Nach einigen Sekunden des Schweigens nahm Amir am Tisch Platz und deutete Özcan, es ihm gleichzutun. "Also, was willst du?" fragte er unverwandt, nachdem sie die nötigen einleitenden Heucheleien hinter sich gebracht hatten. Sein Gegenüber war froh, dass Amir sich diesmal so schnell darauf besann, einfach gerade heraus zu sprechen. Wenn er auch sonst keine langen Diskussionen mit Özcan führte, er antwortet ihm wenigstens, wenn ihn der Ältere ansprach.

"Ich bin hier um dich zu einem kleinen Abenteuer einzuladen. Heute Nacht werden ich und einige andere die Burg verlassen und uns ein wenig in der Stadt vergnügen." "Wie schön für euch. Leider werde ich euch nicht beiwohnen können. Du weißt, dass ich Maysaf nicht verlassen darf." Özcan lächelte. Gut, der erste Teil war geschafft, jetzt musste er nur überzeugend wirken. "Ja, davon habe ich gehört, aber ich habe nicht vor, dich dazu aufzufordern, Befehle zu missachten. Ich will dir lediglich ein wenig Luft verschaffen." "Und warum?" "Nun ja, Amir. Einerseits wirst du inzwischen fast gesprächig und das missfällt mir, es stört das Bild das ich von dir habe." Bewusst achtete Özcan darauf, scherzend zu klingen. Amir schnaufte verächtlich. "Andererseits habe ich mich gefragt, ob du nicht daran denkst, dass es inzwischen einmal angebracht wäre, deine Zeit in der Gegenwart...nun....des anderen Geschlechts zu verbringen." Es war Özcans stärkster Trumpf, Amir in seinem Stolz zu verletzen. Wenn man ihn wütend machte, konnte man ihn zu beinahe allem überreden, man musste nur aufpassen, dass man danach nicht selbst Ziel von Amirs' Aggressionen wurde.

Der Junge hatte sich nicht bewegt und wirkte doch ein wenig errstarrt. "Was willst du damit sagen?" zischte er mit blitzenden Augen. Özcan wurde nervös, wusste jedoch, dass er es beinahe geschafft hatte. "Das wir lauter Männer hier oben sind und dich das ebensosehr langweilen muss wie uns alle. Amir, es kann wirklich amüsant sein einen Abend in der Stadt zu verbringen. Und keiner würde merken, dass du weg bist." Eilig winkte er Nazah heran. "Die ist einer der neuen Novizen. Er versicherte mir, dass es ihm eine Ehre wäre, dir zu Diensten zu sein. Nazah wird deinen Platz hier einnehmen und die Wächter glauben lassen, du würdest ruhen." "Und was werde ich wirklich tun?" fragte Amir drohend. "Nun ja, du wirst, natürlich nur wenn es dir beliebt, mit uns einen kleinen Ausflug unternehmen. Ich will dich zu nichts zwingen, aber sieh dir die Sache einfach mal gemütlich aus einer Ecke an und du wirst feststellen, dass ich weiß wovon ich rede." "Welche Sache?" Özcan zögerte, brachte es aber schließlich zu Ende. "Also, mein Bruder, wenn wir in die Stadt gehen dann..."

 

Föhliche Musik schwebte durch einen Nebel schwüler, stickiger Luft durch den Raum, getragen von fetzten sinnloser Gespräche und Gelächter. Amir hatte sich sorgfältig nach einem Platz umgesehen, an dem er seine Ruhe hatte und sich schließlich für einen Tisch in der linken hinteren Ecke der Schenke entschieden. Özcans Vorschlag hatte er nur aus zwei Gründen angenommen: Einerseits schmeichelte ihm Nazahns Überzeugung, dass es eine Ehre sei ihm zu helfen, andererseits stieg die Galle seine Kehle hoch, wenn er an den Anblick der schwarzen Steine in der Burgmauer dachte. Inzwischen hatte er angefangen sie zu zählen. Amir musste dringend aus Maysaf heraus, um sich endlich wieder einmal frei zu fühlen. Doch er wäre nicht er selbst gewesen, hätte er aufgehört, eine Miene lässiger Eitelkeit den anderen Gegenüber aufzusetzen und jeden ihrer Schritte zu kritisieren. Die meisten hatten es für keine gute Idee gehalten, ihn mitzunehmen, aber Özcan ließ ihnen keine Wahl.

Tatsächlich gelang es, Amir ungesehen aus der Burg zu bringen und die Stadt zu erreichen. Hier hatten sie sich aufgeteilt und Özcan hatte den Jungen zusammen mit Samut und einigen anderen zu einer Taverne geleitet. Von Anfang an missfiel Amir der Ort und nicht zuletzt auch die Gesellschaft, Samut rief zu viele Erinnerungen in ihm hervor. So entfernte er sich rasch von der Gruppe und saß nun mit hochgezogener Kapuze und starrem Blick an seinem Platz. Wirkte er auch, als wäre er versunken in Gedanken, in Wahrheit beobachtete er das bunte Treiben seiner Brüder und begann langsam aber sicher ein wenig neidisch auf ihre ungezwungene Art zu werden.

Einige Mädchen hatten sich zu ihnen gesellt und Amir konnte nicht umhin, Özcan still recht zu geben. Ihre Gegenwart schien erheiternd zu sein.

 

Dieser hatte seinen Blick bemerkt, kam mit zwei leeren Gläsern und einer Flasche zu seinem Tisch und ließ sich geräuschvoll auf den Stuhl fallen. Wie auch den anderen lag ihm bereits ein leichter Schleier von beginnender Trunkenheit in den Augen. Amir hasste diesen Ausdruck aus tiefstem Herzen, aber er rief sich zur Ruhe. Wenn er hier aufbrauste, war er erledigt. Die anderen Männer in der Schenke hätten kaum etwas von ihm übergelassen, dass Al-Mualim zerschmettern hätte können.

"Du siehst nachdenklich aus, Bruder. Ist alles in Ordnung?" bemerkte Özcan, füllte die Gläser und schob Amir eines davon zu. "Trink, es wird dir gut tun. Spült trübe Gedanken weg." Amir wagte es nicht nach dem Glas zu greifen und es fortzuwerfen. Einst, in längst vergangenen Tagen, den Atem seines Großvaters stinkend in seinem Gesicht, hatte er sich versprochen niemals zum Alkohol zu greifen. Es schien ihm, als würde dieser das schlimmste in den Menschen hervorbringen. "Nein, danke, meine Religion verbietet es mir zu trinken." gab er stattdessen zurück. Özcan lachte laut auf. "Sei nicht albern, Amir. Wir sind Assassinen, wir haben keine Religion. <Nichts ist wahr, alles erlaubt!>, erinnerst du dich?" Amir antwortete nicht, also fuhr er fort. "Ich habe bereits eine halbe Flasche Wein getrunken, kein Gott ist erschienen um mich mit Blitzen nieder zu strecken und auch den Meister kann ich nirgends erkennen. Komm schon, Amir, sei kein Narr!"

Einen Moment lang befürchtete er, zu weit gegangen zu sein, doch dann regten sich Amirs Hände und er nahm das Glas. Vorsichtig tat er einen Schluck daraus. Özcan grinste und klopfte ihm auf die Schulter. "Na siehst du, es geht doch. Also, wo wir nun endlich einmal so beisammensitzen, erzähl mir wie du herausgefunden hast, dass man Shaitan die Augen verbinden muss, um ihn zu reiten." "Durch genaue Beobachtung und Wissen." entgegnete Amir schlicht. Das Gehirn des anderen Novizen arbeitete fieberhaft daran, dass Gespräch in Gang zu bringen, dennoch wandte er sich betont ruhig dem lauten Treiben zu.

"Was hälst du davon? Du wirst nicht umhin können mir zuzustimmen, wenn ich sage das dass hier besser ist als alleine in einem kahlen Zimmer zu brüten." "Noch bin ich mir da nicht so sicher. Gut, die Mädchen mögen schön sein. Ihre Gesellschaft mag so manchem von euch die Hitze ins Gesicht treiben. Ich aber halte sie schlichtweg für einfache Huren."

"Wie gut von dir bemerkt!" antwortete Özcan mit der Schläue eines Fuchses. "Das ist es ja gerade, was es so angenehm macht. Keine Verpflichtungen, Amir. Morgen früh ist alles vergessen und vorbei. Bei welcher ehrbaren Frau könnte man solche Erwartungen stellen?" "Es gefällt mir nicht, wie du mit mir sprichst, Bruder. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du etwas im Schilde führst." Amir hob seinen Blick, doch Özcan hielt ihm diesmal stand. "Wahrlich, das tue ich Amir. Ich habe vor dafür zu sorgen, dass du diese Nacht nicht vergessen wirst."

 

Amir hatte sein Gesicht nicht verlieren wollen und wusste keinen anderen Ausweg, als Özcan ein Mädchen zu ihnen holte und es ihm vorstellte. Knappe Worte des Grußes entfuhren ihm viel zu leise und Özcan nutzte die Gunst der Stunde. Er lullte den unsicher gewordenen Amir mit Worten ein und achtete darauf, dass dessen Glas nie ungefüllt blieb. Irgendwann hatte er sie verlassen, angeblich um nur kurz den Gesetzen der Natur zu folgen. Seitdem war er nicht mehr aufgetaucht und Amir verfluchte ihn still. Das Mädchen war geblieben. Sie schien sich langsam zu langweilen, denn keine ihrer Bemühungen mit dem stillen Burschen zu sprechen, hatte Früchte getragen. Seufzend trank sie den Rest ihres Glases aus und beschloss es ein letztes Mal zu versuchen, damit sie wenigstens einen Teil der versprochenen Bezahlung einfordern konnte.

"Du scheinst dich hier nicht sehr wohl zu fühlen. Komm, lass uns einen ruhigeren Ort aufsuchen." begann Laziz und berührte die Hand des Jungen. Dieser wäre am liebsten sofort zurück gezuckt, doch das Angebot des Mädchens klang gar nicht so schlecht in seinen Ohren. Wenn sie ihn von hier wegbringen konnte, wo er ständig unter den Augen anderer Novizen saß, vermochte es ihm wahrlich leichter zu fallen zu denken. Er wehrte sich auch nicht, als Laziz ihn mit sich zog. Insgeheim hatte er gehofft, sie würde ihn nach draußen führen, war aber auch damit zufrieden, dass sie ihn aus der stickigen Hitze der Schenke befreite, als sie eine Tür neben der Theke öffnete und ihn in ein spärlich beleuchtetes Stiegenhaus brachte. Flink stieg sie die Stiegen hinfauf und deutete ihm, ihr zu folgen. Der Raum, in dem sie schließlich angelangten, schien Amir noch karger als sein eigenes Zimmer. Einzig ein Bett und mehrere Bilder, von denen er schnell den Blick abwandt, befanden sich darin. Nervös begann er, einen Ausweg zu suchen. Das Fenster war vergittert und die einzige Türe führte wieder zurück zu den anderen Schülern. Er war gefangen oder fühlte sich zumindest so.

 

Laziz hatte einige Kerzen entzündet und war wieder an ihn herangetreten. Vorsichtig hob sie ihre Hände, streifte die Kapuze nach hinten und fuhr mit ihren feinen Fingern durch seine Haare. Ihre Lippen waren nur wenige Zentimeter von seinem Hals entfernt, als Amir ihre Handgelenke packte und sie von sich stieß. "Hör auf!" herrschte er sie an. Laziz erschrack kurz, lächelte jedoch einen Augenblick später wieder mit jenem Blick, der ihn nur noch nervöser werden ließ. "Ich habe dich noch nie bei den anderen Assassinenschülern gesehen. Du besuchst uns zum ersten Mal, hab ich recht?" Die Hitze des Alkohols, der in seinem Blut kreiste stieg in Amir auf, die Situation begann peinlich zu werden und er musst antworten, wenn sie ihn nicht für einen völligen Idioten halten sollte. "Ich pflege mich normalerweise nicht solch niederen Vergnügen hinzugeben." brachte er schließlich hervor, die Worte schienen ihm gut gewählt. Aziz Gesicht blieb freundlich. "Ich verstehe. Nun, vielleicht sollte ich ein wenig für dich tanzen?"

 

Im Moment war Amir alles recht, was Distanz zwischen ihm und Laziz schuf. "Das wird wohl gut sein." gab er trocken zurück und ließ sich auf dem Bett nieder. Fünf Minuten später bereute er seine Entscheidung. Es war nicht die Art wie das Mädchen gekleidet war, die ihm den Verstand rauben wollte, obwohl er nicht umhin konnte, die nackte Haut zu bemerken. Es war wie sie ihren Körper zu unsichtbaren Klängen bewegte. Amir schwitzte, seine Kehle war trocken und in seinem Kopf drehte sich alles. "Wir sollten fortfahren." brachte er mühsam hervor. Aziz verharrte in einer besonders aufregenden Bewegung. "Womit?" "Nun...tja...womit immer ihr fortfahrt, wenn ihr getanzt habt." Laziz unterdrückte ein breites Grinsen. "Wie ihr wünscht!"

Erneut kam sie ihm nah. Diesmal erhob Amir keine Einwände, als sie begann seinen Nacken zu massieren. Er schloss lediglich die Augen und überlegte hektisch, wie er jetzt noch aus der Sache heraus kommen konnte, sah jedoch ein, dass er den Punkt der Umkehr wohl schon überschritten hatte. Außerdem fühlte es sich zu gut an, um aufzuhören. Laziz hatte ihre Position unmerkbar verändert, ihre Hände glitten jedoch nun an seinem Oberkörper herab. Amir zuckte, als ihr Mund seine Haut berührte. Sanft küsst sie seinen Hals, wanderte zu seinem Ohr, knabberte spielerisch daran. Die Welt begann zu verfließen. Wie in Zeitlupe wandte Amir ihr sein Gesicht zu, sie nutzte den Moment sofort um ihn zu küssen und schwemmte damit jeden Halt hinfort, den er noch gefunden hatte. Gedankenfetzen flogen durch seinen Kopf, als sie ihn zu sich zog. Amir fasste einen Entschluss. Wenn die Dinge nun schon so einen Lauf nahmen, dann wollte er zumindest die Oberhand über die Situation behalten. Laziz lachte ihn an, als er sie packte und vollends auf das Bett stieß.

 

Leise schlich Adalla die Mauern der Burg entlang. Der Weg hierher war beschwerlich gewesen, sie hatte nicht wie sonst den Weg zu den großen Toren eingeschlagen, sondern war unterwegs abgebogen und hatte sich durchs Dickhicht gekämpft. Adalla wollte vermeiden, gesehen zu werden. Endlich erreichte sie das Fenster, das Özcan ihr beschrieben hatte. Ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken, ihn bald wieder zu sehen. Es war schon einige Zeit vergangen, seit sie am Fluss aufeinander getroffen waren.

 

Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, Maysaf zu verlassen. Nach einem weiteren Streit mit ihrem Bruder hatte sie ihre Habseligkeiten gepackt und wanderte zielstrebig aus der Stadt. Sollte Amir doch bleiben wo der Pfeffer wuchs! Als Adalla zum Fluß kam und gerade begann zu überlegen, ob sie die richtige Entscheidung traf, hatte Özcan sie aufgehalten. Er war ans Ufer gekommen um zu schwimmen und zögerte nicht lange sie anzusprechen, als er Amirs Schwester gewahr wurde. Genaugenommen wunderte er sich, ob es irgend jemanden gab, der Adalla einfach übersehen konnte. Sie war ihm schon vor einigen Wochen aufgefallen, als sie Amir besuchte, doch seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. Ihr Haar fiel offen über ihre Schultern und der Wind wiegte es langsam hin und her.

"Wohin gehst du?" rief er ihr zu. Adalla erschrack, sie hatte Özcan nicht gesehen, so sehr war sie in ihre Gedanken vertieft. Nun warf sie ihm einen drohenden Blick zu. Verdammte Assassinen. Sie schienen überall zu sein. "Keine Ahnung, aber auf jeden Fall werde ich diesen gottlosen Ort verlassen!" ließ sie Özcan wissen und setzte ihren Weg fort. Amirs Mitschüler ließ sich jedoch nicht so leicht abschütteln. "Denkst du, dass es gut ist alleine die Grenzen Maysafs zu überschreiten? Ich meine, wenn dich die Hitze da draußen nicht umbringt, werden es die Wegelagerer erledigen. Du hast nicht einmal Wasser bei dir." Adalla hielt inne. Daran hatte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch nicht gedacht. Sie schalt sich eine dumme Pute, war aber noch nicht bereit so leicht aufzugeben und herrschte Özcan an: "Meinetwegen! Alles ist mir lieber als hierzubleiben und zuzusehen, wie sich mein Bruder in ein Monster verwandelt!"

 

Die Wochen seit dieser Begebenheit waren zu schnell verstrichen. Tags über fand Adalla kaum rechte Möglichkeit sich abzulenken und Abends wartete sie ungeduldig am Ufer des Flusses auf Özcan. Er hatte nicht wie erwartet über sie gelacht, als sie ihm die Gründe für ihr Weglaufen erklärte, er hatte ihr zugehört. Adalla fühlte sich das erste Mal seit langem wieder verstanden.

Natürlich war ihr klar, dass Amir es niemals geduldet hätte, dass sie sich mit einem seiner Mitschüler traf. Es musste also im Geheimen geschehen und mit der Zeit stellte sich heraus, dass das keineswegs einfach war. Taci war wie eine Füchsin, wenn es um das Wohlergehen ihrer Töchter ging, zu denen sie Adalla inzwischen großzügig zählte. Sie hatte schnell Verdacht geschöpft und war just immer dann am Fluss zugegen und wusch Wäsche, wenn Özcan und Adalla gemeinsam am Ufer saßen. Zwar griff Taci keineswegs in die Ereignisse ein, sie stellte nur stillschweigend klar, dass sie jeden Schritt der beiden verfolgen würde.

Adalla kam sich verwegen vor, als sie unter dem Fenster auf ihn wartete. Anfangs hatte sie an einen Scherz geglaubt, als Özcan ihr seinen Plan unterbreitete. Dann hatte sie sich gefragt, wie er es schaffen wollte, nicht von Amir erwischt zu werden. Doch schließlich hatte die Sehnsucht endlich mit ihm alleine sein zu können gesiegt und sie hatte eingewilligt.

Das es kein Fehler gewesen war zeigte das Pochen ihres Herzens, als das Fenster geöffnet wurde und Özcan ihr seine Arme entgegenstreckte, um sie hoch zu ziehen. Sie wollte ihn wegen der Verspätung schelten, doch er legte einen Finger auf den Mund und zog sie schnell den dunklen Gang entlang. Erst als die Türe seines Zimmers hinter ihnen verschlossen war, begann er zu sprechen. "Phu, bis jetzt hat ja alles geklappt. Du bist hier. Endlich!" Özcan zog Adalla in seine Arme. Der Geruch ihrere Haare betörte ihn. "Was ist mit Amir?" flüsterte sie leise, als hätte sie Angst doch noch entdeckt zu werden. "Mach dir keine Sorgen. Ich habe dafür gesorgt, dass er ein paar Stunden beschäftigt ist und nicht hier auftauchen wird." "Bist du sicher?" Das Mädchen hatte sich von Özcan gelöst und sah ihm tief in die Augen. Er nahm vorsichtig ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. "Vertrau mir!" flüsterte er.

 

Amirs Körper bebte, als er neben Laziz niedersank. Schnell veränderte sie ihre Haltung, kroch in seine Armbeuge und begann mit ihren Fingerspitzen um seine Brustwarzen zu kreisen. Nur wenige Sekunden brauchte er, um ihre Hand zu fassen und sie flach auf seinen Oberkörper zu legen, doch sie kamen ihm wie Stunden vor. "Nicht!" flüsterte er atemlos, und setzte schnell "Noch nicht." hinzu. Laziz setzte sich auf und lächelte. Sie lächelte unentwegt und Amir musste diese Lippen einfach küssen.

Danach fiel er wieder in seine Position zurück und streckte die Arme bei Seite. Mit fließenden Bewegungen stand Laziz auf und holte ein Glas Wasser für ihn. Als sie wieder neben ihm saß und er seinen Durst gestillt hatte, schlang Amir seine Hände um ihre Taille "Das war verdammt gut, hab ich recht?" Ihr Lachen klang wie Glockenläuten in diesem Moment. "Nun, ich denke du hast es begriffen!"

 

"Entscheide dich!" Adalla war unerbittlich. Sie stand in der Mitte des Zimmers, die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte Özcan an. Dieser wand sich nervös unter dem Blick. "Du verstehst nicht, Liebes, das ist nicht so einfach. Ich kann nicht zu Al-Mualim gehen und ihm sagen, dass ich jetzt doch beschlossen habe, kein Assassine zu werden. Wie stellst du dir das vor?" "Genauso, wie du es gerade beschrieben hast." Sie blieb hart und Özcan wusste, dass Adalla es ernst meinte.

Seit ihrer ersten Begegnung kannte er ihren Wunsch, Maysaf zu verlassen, er hatte lediglich gehofft, dass ihm etwas mehr Zeit blieb. Bei Allah, sofort wäre er mit ihr gegangen, überallhin, aber da gab es einige Kleinigkeiten, die sich nicht von einem Tag auf den anderen klären ließen. "Amir zum Beispiel!" schoss es Özcan durch den Kopf und er warf diesen Rettungsanker aus. "Denkst du, er wird uns einfach so ziehen lassen? Du hast selbst gesagt, dass Amir gefährlich ist!" Adalla wirkte augenblicklich traurig, als er sie an ihren Bruder erinnerte. Doch sie hatte mit diesem Argument gerechnet und es zu ihrem eigenen gemacht. "Genau, Özcan. Amir ist gefährlich geworden und es wird immer schlimmer! Aber er ist mein Bruder und ich habe kein Recht von ihm zu verlangen, dass er sein Leben für mich ändert. Dich liebe ich, du Narr, und ich möchte nicht auch noch dich an die Bruderschaft verlieren!"

 

Der Novize schwieg. Verdammt, sie hatte recht. Die Ausbildung war im Laufe des letzten Jahres um einiges härter geworden und bald sollten die Schüler Assassinen zugeteilt werden, die sie in die Welt begleiteten, die außerhalb Maysafs lag. Es war der letzte Abschnitt, den sie zu bewältigen hatten, um schließlich das Ritual beschreiten zu können. Selbst wenn er es geschafft hätte, in Maysaf bleiben zu dürfen, Özcan wusste, dass sein Weg nun bald schon dort enden würde, wo er immer hingewollt hatte. Nur das er es inzwischen gar nicht mehr so wirklich wollte. Ihm lag nichts mehr daran, eines Tages ein sagenumwobener Meisterassassine zu werden. Alles, woran ihm etwas lag war Adalla. Er lehnte sich gegen die Wand und ließ sich zu Boden sinken, das Kinn auf seine Hände gestützt. Adalla wollte nicht warten, sie hatte jegliches Interesse an der Stadt verloren. Sie vermisste Akkon, war bereit, den Spuren ihrer Vergangenheit zu folgen und würde sich nicht aufhalten lassen. Notfalls würde sie alleine gehen, soviel wusste Özcan inzwischen über sie. Jetzt jedoch suchte sie noch seine Nähe.

Wärme regte sich in ihm, als sie sich zu ihm niederließ und seine Arme um sich legte. "Ich liebe dich, Özcan, ich liebe dich mehr als alles, dass ich je in meinem Leben besaß!" In einem tiefen Kuss versunken kamen sie am Boden zu liegen.

 

Amir torkelte durch die Straßen von Maysaf. Der Moment der Glückseligkeit war ebenso schnell verflogen, wie er gekommen war und die Logik hatte wieder sein Denken übernommen. Der Junge zitterte aus Wut und Ekel vor sich selbst. Er hatte alle Regeln gebrochen, die er sich selbst auferlegt hatte und ihm wurde bei dem Gedanken an sein Vergehen schlecht. Seine Finger fanden an einer nahen Mauer halt, als er sich würgend übergab. Wenigstens fühlte er sich danach wieder etwas klarer und der Boden hörte auf sich zu wölben. Dieser verdammte Wein. Wieviel mochte er getrunken haben? Und dann das Mädchen. Eine Hure war sie, nicht mehr und nicht weniger und Amir verabscheute sich selbst dafür, dass er die Dienste einer solchen angenommen hatte. Es war ehrlos und dumm, seines Standes nicht würdig. Özcan hatte es eingefädelt und mit diesem würde er nun ein ernstes Wort sprechen, sollte er jemals den Weg zurück zur Burg schaffen.

Die anderen Schüler waren bereits gegangen, als Laziz ihn aus ihren Fängen entließ und es mochte beinahe Morgen sein. Amir beeilte sich, denn er musste vor dem ersten Wachwechsel wieder in der Burg erscheinen, ansonsten wäre die Maskerade aufgeflogen. Unter größten Anstrengungen erreichte er schließlich das Seitentor, dass die anderen glücklicherweise unversperrt gelassen hatten, kämpfte sich die Stiegen hoch und erreichte den Schülertrakt.

Der junge Assassine wusste, dass seine Verfassung ihm eigentlich nur eines gebot: Sich hinzulegen, den Rausch auszuschlafen und am Morgen mit pochenden Kopfschmerzen zu erwachen. Wie so oft war es Ungeduld jenem, der seinen Stolz verletzt hatte, zur Rede zu stellen, die ihn bewog, Özcan sofort aufzusuchen.

 

Manche mochten meinen, dass Zufall ein Vorgang ist, der auf dieser Welt nicht existiert. Sie nannten Ereignisse wie das folgende reine Bestimmung. Adalla sollte später sagen, dass es keines von beiden gewesen war, sondern rein Amirs Instinkt.

 

Amir stolperte über einen Stuhl, als er ins Zimmer stürtzte. Özcan hatte die Tür verschlossen, doch dem Jungen war es in seiner trunkenen Wut ein leichtes gewesen, sie einzutreten. Jetzt rappelte er sich auf, begann zu lallen und drehte sich suchend im Zimmer umher. "Ötschcan zu vefluchter Heuschler wo bist du?" Sein Blick fiel auf den Gesuchten und das Mädchen, das unter ihm am Boden lag. Amirs Wahrnehmung setzte aus.

 

Mit einem Schrei stürzte Amir auf die Liebenden, riss Özcan in die Höhe und verpasste ihm einen harten Kinnhacken. Dann bückte er sich erneut und zerrte Adalla an ihrem Arm auf die Knie. "Was zum Teufel ist hier los? Was hat das zu bedeuten?" schrie er das völlig verängstigte Mädchen an. "Bruder, beruhige dich!" mischte sich Özcan ein, der wieder auf den Beinen war. "Halt dein Maul, mit dir habe ich nicht gesprochen!" Amir schleifte Adalla zu dem Bett und zwang sie, sich zu setzten. Der andere wagte nicht, ihn aufzuhalten. "Du hast dich zu einer Hure machen lassen! Hast du eine Ahnung, was dieser Mistkerl eben noch getrieben hat, bevor er über dich herfiel?" Weinend sah Adalla zu Amir hoch. Seine Augen loderten wie Feuer. "Ich liebe ihn, Amir. Schon lange. Ich wusste du würdest es nicht verstehen!" "Schweig!" brüllte ihr Bruder, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem ihren entfernt. Er versetzte dem Mädchen einen weiteren Stoß und fuhr dann herum, der Blick suchend ähnlich dem eines Raubtieres auf der Jagd.

Özcan hatte sich nicht von der Stelle bewegt und die Arme beschwichtigend gehoben. "Amir, lass es uns dir erklären! Wir wollten dich nicht kränken, es sollte lediglich geheim bleiben, bis die rechte Zeit es dir zu sagen gekommen ist." Der rasende Junge verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze. "Deine Worte regen Übelkeit in mir. Du bist ein Verräter, Özcan. Und du wirst die gerechte Strafe eines Verräters bekommen!" Der Stuhl zertrümmerte unter Amirs Händen und er sah sich suchend unter den Resten um. Ein Bein war schief beim Aufprall gesplittert und ragte spitz aus dem Chaos hervor. Amir nahm es an sich und machte Anstalten, auf Özcan loszugehen. "Begeh keinen Fehler, den du nicht mehr gutmachen kannst!" schrie dieser wie von Sinnen.

Adalla war hinzugesprungen, krallte ihre Nägel in Amirs Arm und flehte ihn an aufzuhören. Die Faust flog surrend durch die Luft und traf die linke Seite ihres Gesichtes.

Adalla sank auf die Knie und wimmerte leise, als Amir nicht daran dachte, ihren Arm wieder loszulassen. Stattdessen drehte er ihn ihr immer weiter auf den Rücken. "DAS war ein Fehler, der nicht mehr zu ändern ist, meine Liebe!" knurrte er ihr ins Ohr.

 

Ein Tritt in seine Kniekehlen ließ ihn zusammensinken und plötzlich kamen mehrere Schüler über ihn. Die Szene war nicht ungehört geblieben und die anderen Novizen hatten das Zimmer in eben jenem Moment betreten, als Amir seine Schwester schlug. Jetzt rangen sie ihn gemeinsam zu Boden und hielten ihn dort fest. Doch immer noch war sein Zorn nicht zu stoppen. Er riss seinen Kopf hoch brüllte direkt in Özcans Knie. "Du wirst es bereuen, mich betrogen zu haben. Ich werde dich zerfetzten, ich werde dich töten! Keine Sekunde wird es mehr geben, in der ich dir nicht nach dem Leben trachte!" Die Novizen hatten Mühe, Amir festzuhalten, so sehr gebärdete er sich.

Özcan schüttelte den Kopf. "Du verstehst gar nichts, Amir Ibn la-Ahad, und so wird es immer bleiben." erwiderte er mit gesenkter Stimme. Noch mehr Aufregung füllte das Zimmer, als die Wächter eintrafen und Amir, der sich heftig wehrte, in Richtung des Haupthauses schleiften. Özcan nahm Adalla, die am ganzen Leib zitterte, in seine Arme. "Es ist vorbei, mein Schatz." Vorsichtig strich er über den blutenden Riss an ihrer Schläfe, den Amirs Faust hinterlassen hatte. "Ich werde mit dir gehen, wohin du willst. Wir werden Maysaf verlassen!"