6. Schaitan

Man muß die Jahre wägen, nicht nur zählen*. Amirs folgende Jahre hatten mehr Gewicht als die eines normalen Lebens. Al-Mualim wusste schnell, wer den Jungen vergiftet hatte, und er ließ die schlimmste Bestafung folgen, die es gab: Er tat gar nichts. Er nickte lediglich jedem, der sich Amir in böser Absicht näherte, wissend zu und trieb manche Novizen damit in den Wahnsinn und einen letztlich in den Selbstmord. Er war ein unbedeutender Niemand gewesen, der versucht hatte etwas Aufmerksamkeit zu gewinnen.

 

Amir hatte sich schneller erholt als erwartet und der Meister war mit seiner Entwicklung völlig zufrieden. Sicher, der Junge war noch verschlossener als zuvor geworden, es gab Wochen in denen er kein Wort verlor, doch sein Geist schien durch die Krankheit gestärkt. Kaum war er wieder auf den Beinen, trat er vor seinen Meister und verlangte, von nun an wieder an allen Stunden teilnehmen zu dürfen. Al-Mualim hatte diesem Drängen noch eine Weile standgehalten, den Wunsch aber schließlich gewährt. Inzwischen war es nicht mehr nötig, Amir vor den anderen zu schützen. Es verirrte sich ohnehin kaum mehr jemand in seine Nähe.

 

Der Meister stand am Fenster und blickte nachdenklich in die Ferne. Er schien große Ereignisse in den spiegelnden Reflexionen des Fensters zu sehen, denn er verharrte schon lange in dieser Stellung. Hassan war sich nicht einmal sicher, ob Al-Mualim seine Worte gehört hatte. Er bewog, dass es besser war weiterzusprechen, jetzt wo er schon damit angefangen hatte. "Ich weiß, dass ihr Amir durch mehr verbunden seit als nur durch Interesse an seinen Fähigkeiten. Euer Freund hat euch gewiss gebeten, den Jungen auf seinem Weg zu leiten. Aber so sehr ich auch wünschte, euch etwas anderes sagen zu können, ich fürchte wir haben ein Problem."

Al-Mualims Blick klärte sich und er kehrte in die Gegenwart zurück. "Die Schnelligkeit mit der Amir lernt ist unglaublich, Meister. Es gibt schon jetzt keinen Jungen seines Ranges und der Ränge nah über ihm mehr, den er nicht im Kampf besiegt hat. Demir, der ihn in Strategie unterweist, kam gestern zu mir. Er sagte er wüsse nicht mehr recht, was er dem Jungen noch beibringen solle." Der Alte seufzte leise. "Und worüber beschwert ihr euch dann, Hassan? Euch muss bewusst gewesen sein, dass ich Amir nicht ohne Grund so früh ausbilden ließ. Ihr habt Cihan gekannt." "Ja, das habe ich." dachte Hassan bei sich, doch es war mehr.

 

Er hatte Cihan gefürchtet. So wie alle. Er war einer der Brüder gewesen und doch niemals wirklich ein Teil von ihnen. Cihan war der gefährlichste Mann gewesen, den Maysaf jemals hervorgebracht hatte. Gefährlich für die Ziele, gefährlich für die Bruderschaft, gefährlich für sich selbst.

Hassan dürstete nicht danach, so etwas noch einmal zu sehen. Cihans Stolz und sein unbelehrbarer Hochmut hatten mehr als einmal dazu geführt, dass der ganze Orden in Schwierigkeiten kam. Wäre es möglich gewesen ihn zu töten, bei Allah, Hassan hätte es getan. Doch der Meisterassassine stand unter der persönlichen Protektion Al-Mualims, der ihn kurz nach seiner Berufung zum Meister zum Bruder des höchsten Ranges ernannte. Cihan um die Ecke zu bringen glich einem Sakrileg und Hassan wäre es eine Freude gewesen jenen kennen zu lernen, der es letztendlich getan hatte.

 

"Ich denke lediglich, wir sollten mit Amir vorsichtiger sein, als mit seinem Vater. Meister, er ist gerade einmal fünfzehn und würdet ihr morgen entschließen ihn zu initieren...er wäre dessen würdig, was seine Fähigkeiten als Assassine betrifft. Was mir sorgen bereitet sind seine anderen...Eigenschaften." fuhr er fort. Al-Mualim wusste genau, wovon Hassan sprach. Stolz, Hochmut und rasende Wut wechselten sich täglich mit Aggression und stoischer Stille bei Amir ab. Nicht einmal er selbst konnte vorrausahnen, welche dieser Stimmungen wann bei dem Jungen auftreten würde und ihm gegenüber bemühte sich Amir noch. Andere bekamen das ganze Ausmaß dessen zu spüren, was ihn antrieb. Und er hatte etwas, ein kleines Stück mehr, von dem niemand wirklich sagen konnte, was es war. Er erlebte die Welt in..Augenblicken. Amir schien manchmal nicht den Zusammenhang zu erkennen, aber er hatte ein fabelhaftes Auge für Details. Dass war es, was Al-Mualim beeindruckte.

"Nun, Hassan, aus diesem Grund würde ich auch niemals daran denken ihn das Ritual beschreiten zu lassen, bevor die rechte Zeit gekommen ist." Ruckartig drehte er sich um. "Haltet ihr mich denn wirklich für so einen Narr? Seht euch unter euren Schülern um, Hassan. Ausgezeichnete Boten. Fähige Verbindungsmänner. Doch das ist nicht, was unserem Orden fehlt." "ICH sehe auch einige gute Attentäter unter ihnen. Özcan hat sich ebenso verbessert. Wäre es nicht weiser ihn mehr zu fördern und Amir Zeit zu geben zu sich selbst zu finden?" Hassan verdammte sich für seinen Mut. Seine Zunge hatte schneller gesprochen als seine Gedanken flossen. Er war gerade dabei, dem Meister zu widersprechen.

"Nein, Bruder. Und dabei bleibt es. Amir wird weiterhin bei euch lernen. Er wird weder eine Stufe seiner Ausbildung wiederholen, noch eine überspringen. Er wird noch früh genug erkennen, wer er ist. Dies ist mein Wille, Hassan. Und mein letztes Wort."

 

Die Schüler hatten sich an diesem Tag vor der Stadt versammelt. Ihre Lehrer schienen es langsam für angebracht, die Novizen nicht länger nur auf der Burg zu unterrichten. Schließlich würden sie später kaum Zeit dort verbringen.

Korkut Umat sah mürrisch ihrer Reihe entlang. Zehn an der Zahl standen sie aufrecht und ihren weißen Roben vor ihm, manche mit der steifen Haltung von Spannung, andere nervös lässig wirkend. Korkuts Blick blieb an einem von ihnen hängen.

Amir stand in der Reihe zwischen seinen Brüdern, doch einen Schritt hinter ihnen. Verwirrt versuchte der Lehrer seine Augen zu fokusieren. Der Novize hatte die Kapuze aufgesetzt und ins Gesicht gezogen. Sein Kopf war über gefaltete Hände gesenkt, sein Körper Ausdruck von ruhiger Erwartung. Korkut konnte nicht sagen warum, doch der Junge kam ihm seltsam unwirklich vor, so als wäre er eigentlich gar nicht da. In einer Masse von Menschen hätte der Lehrer ihn mit Sicherheit gar nicht bemerkt.

Irritiert fuhr Korkut fort, die Schüler zu mustern. Hinter ihm erstreckte sich eine weitläufige Koppel, auf der mehrere Pferde standen. Korkut war ein Meister des Reitens. Egal ob er mit Messern warf, aus vollem Gallopp zu Boden sprang oder kopfüber vom Pferd hängend eine Holzpuppe zerteilte, er wikte dabei immer, als würde er gerade gemütlich spazieren gehen.

Korkut war groß, schlank und voll sehniger Muskelkraft. Während andere Assassinen eher Wert darauf legten, ungesehen zu bleiben, war er DAS Gesicht unter ihnen. Sein Kopf hing als Zeichnung in jeder Taverne in den Städten an der Wand und Wächter warfen Nachts betrunken Messer danach. Korkut durfte Maysaf nicht mehr verlassen, wenn er nicht getötet werden wollte, sobald er die Grenzen des Reiches überschritt.

 

Derart theatralisch wirkte auch seine Art des Unterrichts. Jede Geste, jedes Wort ein Ausdruck dessen, dass Reiten für ihn mehr war als schlichte Fortbewegung. "Friede sei mit euch, meine jungen Brüder!" begann er schließlich. "Viele von euch mögen in ihrer Heimat bereits mit Pferden zu tun gehabt haben und ich sage euch von Anfang an: Vergesst alles, was ihr über sie gelernt habt. Völliger Nonsens. Ihr werdet lernen, nicht AUF dem Pferd, sondern MIT ihm zu reiten."

Korkut wandte sich zu den Pferden um und stieß einige klickende Laute aus. Die Ohren der meisten Tiere zuckten aufmerksam und sie kamen näher an den Zaun heran. Die Schüler hatten das seltsame Gefühl, dass die nächsten Worte nicht nur für sie bestimmt waren. "Wählt nun ein Pferd, und wählt mit Bedacht! Ihr werdet es striegeln, ihr werdet es Füttern und ständig für sein Wohlergehen sorgen. Und ihr werdet es reiten, solange bis seine Beine euch nicht mehr tragen. Oder, wenn ihr die falsche Wahl trefft," fügte Korkut nicht ohne Genuß hinzu, "solange bis ihr euch beim Sturz den Hals brecht."

 

Bewegung kam in die Reihe der Novizen. Jeder versuchte, möglichst schnell das Beste Pferd zu finden. Die meisten Tiere waren groß und standen ruhig in der Koppel. Einige wenige flüchteten aufgeschreckt von den heftigen Bewegungen und blieben schnaubend wieder stehen. Korkut seufzte innerlich, dass Betragen der Novizen ließ ihn zu dem Schluss kommen, dass es ein langer Tag werden würde. Er sah, dass einige von ihnen bereits gewählt hatten und nun mit ungelenken Fingern begannen, den Tieren die Zäume anzulegen. Der Rest bewegte sich unentschieden zwischen der Herde umher. Suchend hielt er Ausschau nach dem einen, der ihm zuvor aufgefallen war, doch er konnte den Jungen nicht bei den anderen entdecken.

Amir hatte sich von ihnen wegbewegt. Er umrundete die Koppel am Zaun entlang und ging auf die hinterste Ecke zu. Ein kleiner, schwarzer Hengst stand starr wie eine Statue an einem Heuwagen. Er war in einem fürchterlichen Zustand. Die Flanken von Narben übersäht, das Fell von Schmutz verkrustet. Er hielt den Kopf gesenkt, döste vor sich hin und schien dabei völlig kraftlos.

Korkut überlegte, ob er den Jungen warnen sollte, entschied sich aber dagegen. Erst wollte er abwarten, was der Hengst tun würde, wenn der Novize sich ihm näherte. Bis auf wenige Meter hatte sich Amir an das Tier heran geschoben, als Bewegung in das Pferd kam.

 

Es schien als floss Kraft in seine Muskeln, als es den Kopf hob, sich tänzelnd umdrehte, den Schweif gebieterisch schlugn und sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Betrachtete man ihn jetzt, war der Hengst nicht mehr so klein. Die Nüstern weit gebläht, die Augen voller Feuer wieherte er dem Menschen, der auf ihn zukam, eine Drohung entgegen. Erst jetzt sah Amir, dass die Mähne des Tieres, ganz im Gegensatz zum Rest des Körpers, schneeweiß über den aufgeregt gebogenen Hals fiel.

Korkut beschloss, dass es genug war. „Dieses Pferd steht nicht zu Wahl, mein junger Bruder. Nehmt euch ein anderes!“ rief er über die Weide, lenkte damit die Aufmerksamkeit aller auf Amir. Dieser ignorierte den Lehrer völlig und ging langsam weiter auf das Tier zu. Er bewegte sich dabei seitlich, auf seinen Lippen lag ein leises Flüstern. Nervös zuckte das Pferd mit den Ohren und überlegte augenscheinlich, was es mit dieser Annäherung anfangen sollte. Amir selbst hatte sich wie gewohnt völlig darin verloren, jede Facette des Tiers in sich aufzunehmen und bemerkte nichts um ihn herum. Dies war inzwischen ein vertrautes Gefühl für ihn geworden, so als könne er durch die Augen eines anderen sehen, der nicht wie er jeden Reflex, dafür aber alle Einzelheiten wahrnehmen konnte. Feingliedrige Adern überzogen den Kopf des Hengstes, sie waren angeschwollen und traten deutlich unter der Haut hervor.

 

Korkut fluchte, er hastete auf Amir zu, um den Jungen zurückzureißen, sollte der Teufel sich auf ihn stürzen. Das Tier hatte er noch als Fohlen einem alten Händler abgenommen, der froh war es loszuwerden. Mit Sicherheit hatte der Hengst nichts Gutes erlebt und sein Misstrauen in die Menschen war einzigartig. Korkut hatte geplant, ihn einfach auf der Weide stehen zu lassen, bis sich das Tier eingewöhnt hatte, denn er sah mit einem Blick, dass hier ein Prachtexemplar vor ihm stand. Seitdem waren 2 Jahre vergangen, in denen die Feindseligkeiten des Hengstes unverändert blieben. Nicht einmal Korkut selbst hatte es bisher geschafft, ihn zu zäumen. Überraschung brachte den Lehrer zum Stehen.

Amir war, immer noch leise flüsternd, bei dem Tier angelangt. Wieder erwarten zerschmetterte es ihn nicht mit seinen Hufen oder biß seine Finger ab. Es senkte den Kopf und schien dem Jungen zuzuhören, als er seine Hand zwischen die Augen des Pferdes legte und mit ihm sprach.

Niemals hätte Korkut zugegeben, dass ein anderer sich besser auf Pferde verstand als er, doch was er hier sah, hatte er für schlichtweg unmöglich gehalten. Amir hatte dem Tier ein Halfter übergestreift und führte es langsam zu den anderen. Korkut wollte ihm den Hengst abnehmen, doch dieser bleckte die Zähne und schnappte zu. "Biest!" rief der Lehrer und rieb sich die schmerzende Stelle. Der Junge sah ihn nicht an, er hatte nur Augen für das Pferd und seine Stimme klang sanft als er fragte:"Wie heißt er?" "Nun, ich pflege ihn zu nennen." Amir schien weit weg zu sein, als er das Tier erneut an der Stirn streichelte. "Sheitan." flüsterte er, und der Hengst legte ihm den Kopf auf die Schulter.

 

Özcan hielt sich den Bauch vor Lachen. Er und die anderen Jungen hatten sich wie üblich zu abendlichen Wettspielen im Hof der Burg versammelt und sprachen über das Thema Nummer eins: Amir und sein komisches Ross. Im Moment waren sie dabei, Wortspiele zu erfinden. Während sie alle bereits täglich Ausritte unternahmen und lernten mit dem Schwert umzugehen, während sie ritten, hatte Amir es bis jetzt noch nicht einmal geschafft Scheitan einen Sattel aufzulegen. Samut gefiel sich in der Rolle des Redenschwingers und er setzte zu einem neuen Scherz an: "Ich fürchte, wenn es so weiter geht, wird Amir noch vom Teufel geritten!" Die langen Arme und Beine des Jungen falteten sich wie Papier zusammen, wenn er lachte, und er brauchte einige Minuten um zu merken, dass er plötzlich der Einzige war, der noch gackernde Laute von sich gab. Verwirrt blickte er in die Gesichter der anderen Novizen. Sie sahen durch ihn hindurch. Samut drehte sich langsam um.

Amir stand hinter ihm, nur etwa fünf Armlängen entfernt. Den Novizen war es nicht erlaubt außerhalb der Trainingsstunden Waffen zu tragen, und Samut war noch nie so dankbar dafür gewesen.

Nach seiner ersten Begegnung mit Amir hatte er mutige Pläne geschmiedet, wie er dem Konkurrenten schaden konnte, jedoch keinen davon jemals ausgeführt. Natürlich war es ihm ganz recht gewesen, als IRGENDJEMAND versucht hatte Amir zu vergiften. Aber Samut selbst hätte sich nicht getraut. Er war durch den Bruder seiner Mutter, einem Boten, nach Maysaf gekommen und hatte nie angestrebt ein Meisterassassine zu werden. Alles was er wollte war die gewinnbringende, relativ sichere Beschäftigung, der sein Onkel folgte. Da nach einiger Zeit alle begonnen hatten, sich vor dem komischen Jungen zu fürchten, hatte Samut schließlich beschlossen, es gut sein zu lassen und die Rache zu vergessen. Unweigerlich fühlte er jetzt, dass er seine Chance Amir zu schlagen bereits gehabt und ungenutzt vergehen hatte lassen.

 

Die Stille lag drohend zwischen ihnen, keiner der Novizen wagte etwas zu sagen, doch um einfach wegzugehen war die Situation zu spannend. Auf Samuts Stirn bildeten sich Schweißtropfen, als Amir ihn mit seinem Blick aufspießte. Schließlich ertrug er es nicht mehr und begann zu stammeln: "A..Amir, mein Bruder. Ich...wie...naja..ich wollte gerade..." "Spar dir dein Geschwätz." schnitt der andere ihm das Wort ab. Auch wenn sein Ausdruck dem eines Todesengels glich, innerlich lachte Amir in diesem Moment. Er genoß zu sehen, wie Samut ihn fürchtete und auch alle anderen. Nie hätte es einer von ihnen offen zugegeben, aber wennn Amir des Nachts von mehreren Männern bedroht worden wäre, die Novizen hätten mit Sicherheit nicht ihm, sondern den Angreifern geholfen. Samut wimmerte leise und sah hektisch nach links und rechts um für den Fall, dass Amir auf ihn losging, eine Fluchtmöglichkeit zu haben. Doch dieser stand immer noch am selben Platz, lässig und doch bedrohlich, kühl und doch voller Hitze.

"Ich sehe du fürchtest dich vor dem Kampf, mein Bruder. Es liegt mir fern dich zu ängstigen. Wie sollten diese Sache wie richtige Assassinen und nicht wie schlampige Bettlerjungen austragen." Amir hatte zu gehen begonnen und umrundete Samut, der stocksteif stand. "Ich schlage dir also einen fairen Wettkampf unter Brüdern vor." Samut wusste, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren und es keine Möglichkeit gab, als erster anzugreifen. Er musste Zeit gewinnen. "Was genau meinst du mit...einer FAIREN Wette?" "Ein Rennen. Du kennst den Weg auf den Berg hinter der Burg?" Einige Novizen schauften. Was war hier los? Sie hatten erwartet einen tollen Kampf zu sehen, schließlich war das AMIR! "Er wird doch nicht etwa einen Funken Ehre in sich haben?" dachte Özcan bei sich. Samut leckte nervös die Lippen. "Ja, den kenne ich. Und was ist damit?" "Morgen früh, bevor die Lehrer uns zu sich rufen, treffen wir uns am Füße des Berges mit unseren Pferden, und wer die Spitze als erster erreicht, hat gewonnen. Ganz einfach." "Oh, er ist wohl doch nur übergeschnappt!" revidierte Özcan seine vorigen Gedanken.

Es war unmöglich, das Amir gewann. Selbst wenn er es wirklich schaffte, das verdammte Tier bis morgen zu reiten, Samut hatte ihm mehrere Wochen Training vorraus. Auf einer ebenen Fläche hätten wohl die Pferde das Rennen entschieden, der Weg, den Amir vorschlug, unterschied jedoch die Reiter. Steil ansteigend, von Bäumen und Sträuchern bewuchert, durch Steinmauern unterbrochen bot er den Hufen kaum Halt.

Samut überlegte nicht lange. "Gut, mein Bruder. Auf morgen dann!" Amir nickte ihm zu und wandte sich zufrieden ab. Als der andere den Platz verlassen wollte, hörte er die Stimme Amirs drohend im Ohr: "Glaubst du wirklich, ich würde dich so einfach davon kommen lassen?" Die Schüler johlten, endlich bekamen sie ihre Schlägerei zu sehn. Samut zitterte. "Der Gewinner putzt drei Wochen lang die Latrinen." ließ Amir dem Gesagten schlicht folgen und schritt würdevoll davon.

 

"Verdammt! Verdammt und zum Teufel!" schrie Amir und rammte seine Faust in die Stallwand. Shaitan wieherte aufgeregt und stieg in seiner Box. Der Junge beruhigte sich ein wenig. Schmerz half ihm, klar zu denken. "Entschuldige, war nicht so gemeint!" warf er dem Pferd zu. Es war spät und noch immer hatte Amir keine Sekunde auf Shaitan's Rücken verbracht. Der Hengst weigerte sich störrisch, einen Sattel auch nur durch die Tür seiner Box kommen zu lassen. Er war ruhig und spielte mit Amirs Haaren, wenn der Junge ihn striegelte. Mit vorsichtigen Lippen nahm er Brot aus der Hand seines zukünftigen, nun ja, vielleicht zukünftigen Reiters. Aber in dem Moment, in dem Amir den Sattel zur Hand nahm, schien er sich für Shaitan in den schlimmsten Feind zu verwandeln.

Frustriert ließ Amir sich im Heu nieder. Er war so ein Idiot gewesen. Warum nur hatte er sich dazu herablassen müssen, auf die Hänseleien zu reagieren? Ein Assassine hielt nichts auf Worte einfacher Leute. Es war mit ihm durchgegangen, wieder einmal. Amir seufzte.

Er wünschte sich Malik herbei, den er nun schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. In den vergangenen Jahren war Malik zwischen Damskus, Akkon und anderen Städten hin und her gependelt, hatte Aufträge erledigt und Amir regelmäßig Botschaften zukommen lassen, in denen er von wilden Nächten in den Armen schöner Frauen, gefährlichen Aufträgen und spannenden Begebenheiten schrieb. Kein Wort hatte der Junge Malik geglaubt. Wahrscheinlich saß sein Freund gerade irgendwo am Feuer und belästigte andere Leute mit seinen Reden.

 

Allada fand ihren Bruder grübelnd und riss ihn aus seiner Lethargie. Amir fuhr hoch und stand aufgerichtet vor ihr. Allada konnte sich nicht mehr erinnern, wann es begonnen hatte. Er entzog sich ihr völlig, wenn er sprach, waren es belanglose Dinge, wenn er sie ansah, fühlte sie Leere. Beinahe kannte sie ihn nicht mehr.

Dennoch ließ sie nicht locker und Amirs Höflichkeit ihr gegenüber wirkte zwar gezwungen, doch Adalla hoffte, dass er irgendwie immer noch an ihr hing. "Es ist spät, was machst du hier?" fragte er ohne Begrüßung. "Das selbe könnte ich dich fragen. Ö..oben haben sie mir gesagt du seist hier." Adalla sprach nie von seinem zu Hause, immer nannte sie es "Die Festung" oder "oben". Es ärgerte Amir und das gefiel ihr. In solchen Momenten war er wie früher.

"Ich habe mit meinem Pferd zu tun." Amir wandte sich um und überlegte, wie er sie rasch loswerden konnte. "Ich weiß von dem Rennen, Amir, und ich bin hier um dir zu helfen." Ja, sie wusste immer alles. Wer zum Henker verriet es ihr? "Ich glaube kaum, dass du mir helfen kannst. Genaugenommen kann mir wohl keiner mehr helfen." "Wir werden sehen." gab Adalla zurück. "Was ist dein Problem?" Amir gab auf, sie würde nicht gehen, wenn er nicht mit ihr sprach. "Er lässt sich nicht satteln. Keine Ahnung was ihm passiert ist, aber es muss mit dem Reiten zu tun haben." "Lass es mich sehen!" forderte seine Schwester und er verdrehte die Augen. "Adalla das reicht, wie will ein Mädch..." "Pass auf was du sagst!" "...eine junge Frau mir dabei helfen?" "Rede nicht, mach einfach."

Unzertrennlich waren sie gewesen, bis das Leben sie trennte. Amir blickte in ihr Gesicht, nahm ihre Gestalt war, doch erkannte nur das kleine Mädchen, dass er immer beschützen hatte wollen. Doch das wahre Bild war ein anderes. Adallah hatte sich ebenso weiterentwickelt wie er. Aus dem folgsamen Mädchen war eine wilde junge Frau geworden, die genau wusste, was sie wann und wie wollte. Adalla ließ sich nicht beirren von Religion, dem Gerede anderer und schon gar nicht von ihrem Bruder.

Amir trotzte. Gut, sollte sie haben was sie wollte. Er nahm den Sattel, ging zur Box und der Donner brach los. Sheitans Augen weiteten sich augenblicklich, er blähte die Nüstern und stieg hoch auf. Amir sprang zurück und warf den Sattel aus dem Sichtfeld. Sofort beruhigte sich der Hengst. "Siehst du, unmöglich, wie er sich aufführt. Wie soll ich es bis morgen schaffen ihn zu reiten?" Er hatte keine Antwort erwartet, bekam sie aber trotzdem. Sie gefiel ihm nicht. "Er ist wie du Amir. Er hat Angst vor seinen Erinnerungen. Es ist ganz einfach, ihn deinem Willen zu unterwerfen: Sorgen wir dafür, dass er seine Vergangenheit nicht sieht." "Und wie willst du das anstellen?" Adalla lächelte. "Ganz einfach...sieh her...!"

 

Korkut hatte die ungewöhnliche Unruhe auf der Koppel geweckt. Er pflegte es auch Nachts bei den Pferden zu bleiben und hatte sich gemütlich auf einen Stein gesetzt und geraucht. Jeder hatte ein Laster, nur wusste er es zu genießen. Warum sollte er sich verstecken, wo er doch sowieso nur von mahlenden Zähnen und ruhig atmenden Leibern umgeben war? Umso mehr erschrack er, als er feststellte, dass er eingeschlafen war. Der Meister des Reitens fuhr hoch und zählte in alter Gewohnheit seine Herde. Zwei Pferde fehlten. An eines konnte sich Korkut besonders gut erinnern. Es war Shaitan, das Pferd Amirs'.

 

Sogar Novizen höhsten Grades waren zugegen, als sie den Startpunkt erreichten. So ein Schauspiel hatte es in Maysaf schon lange nicht mehr gegeben und es bot eine willkommene Abwechslung zu den täglichen Pflichten. Sie alle würden mächtigen Ärger mit ihren Lehrern bekommen, aber das zu sehen war es allemal wert.

Samut trieb sein Pferd unruhig an der in den Sand gezeichneten Linie hin und her. Amir stand noch auf seinen eigenen Beinen und redete Shaitan gut zu. "Also, hier sind die Regeln. Es ist verboten den anderen im Laufe vom Pferd zu stoßen, aber erlaubt sein Tier abzudrängen. Die anderen warten oben auf euch. Viel Glück, meine Brüder und Allah sein mit euch!" Özcan wartete einen Moment, und setzte schließlich hinzu: "Amir, ich denke es wird Zeit aufzusteigen!" Ein schneller Blick zur Seite verriet Özcan Alladas Miene. Wenn er gewusst hätte, dass auch sie hiersein würde, hätte er sich zurückgehalten, als es um den Posten des Rennleiters ging.

Ihr Bruder indes legte den Sattel, den er in seiner linken gehalten hatte, zu Boden. Er zog ein Stück Stoff aus seiner Robe und verband dem Hengst die Augen. Allen stockte der Atem, als der Sattel Shaitans Rücken berührte. Der Hengst bewegte sich keinen Zoll. Vorsichtig, aber doch behende nahm Amir auf seinem Rücken Platz. "Willst du das Vieh allenernstes blind da hinauftreiben?" rief Samut ihm siegessicher zu. "Abwarten." gab er dem Gegner zurück. Özcan nahm ein Horn zur Hand, bemühte sich, möglichst wild und verwegen auszusehen und bließ hinein.

Samuts Pferd satzte nach vorne und rannte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit los. In Seelenruhe griff Amir zum Kopf seines Hengstes, krallte eine Hand dabei in seine Mähne und entfernte das Band. "Zeigs ihm, Shaitan!"

 

Der Gegenwind nahm Amir die Luft zum Atmen. Sie schienen über den Weg dahinzufliegen, noch war er leicht zu bewältigen. Samut sah Amir gerade noch vor sich, als sein Hengst losraste. Jetzt näherten sie sich ihm und seinem Pferd mit gewaltigen Galloppsprüngen. Fliegende Hufe fraßen den Boden und Amir bedauerte, dass Anhalten noch nicht so gut zu beherrschen. Samut hatte ihn bemerkt und trieb sein Pferd schneller an. Ab hier würde es schwierig werden. Samut setzte als erster über einen Baumstamm hinweg und verschwand in dürrem Gebüsch. Shaitan hob nicht einmal seine Beine, er sprang so mühelos, das Amir ein Jauchzen entfuhr. Dieses Pferd war wahrlich ein Teufelskerl.

Der Junge duckte sich tief über den wogenden Hals seines Hengstes. Peitschende Zweige fuhren über ihn hinweg und nahmen ihm die Sicht. Amir konnte nur hoffen, dass Shaitan wusste, wohin er trat. Kaum hatten sie das Geäst hinter sich gelassen, stieg der Pfad steil an. Der Hengst atmete wild, verminderte seine Geschwindigkeit jedoch kein bischen. Genaugenommen legte er sogar zu, was in Armir Gedanken an sein letztes Essen erregte. Seine Finger waren bleich von der Kraft, mit die er sie in die weißen, seidigen Haare des Pferdes krallen musste, um nicht den Halt zu verlieren. Erneut änderte sich die Umgebung und Amir sah, dass sie den letzten, schwierigsten Abschnitt des Rennens erreicht hatten. Vor ihnen ragte ein steiler Hang aus Felsen aus dem Boden auf. Mittendrin konnte Amir Samut erkennen, dessen Pferd sich mühsam auf dem glatten Boden abquälte. Er beugte sich so weit vor wie er konnte. "Sei wachsam!" rief er Shaitan zu. Als hätte ihn der Hengst verstanden, drosselte er die Geschwindigkeit und Amir stellte zufrieden fest, dass er wieder die Richtung bestimmen konnte.

Shaitan war gescheit. Er folgte jedem Druck der Schenkel, solange er den Untergrund für sicher befand, wenn er sie jedoch in den Kopf setzte, einen anderen Weg einzuschlagen, musste sein Reiter aufgeben. Shaitan wählte immer richtig, das begriff Amir bald und er ließ dem Tier seinen Willen.

Samut schien größere Probleme zu haben. Sein Pferd glitt, von seiner schwingenden Peitsche getrieben, ständig auf den nackten Steinen aus, während Shaitan und Amir sich unaufhörlich näher arbeiteten. Endlich hatten sie Samut erreicht, dessen Pferd gerade steil in den Himmel stieg. "Hör auf Samut!" brüllte Amir ihm zu. "Nein, mein Bruder, vergiss es. Ich werde dir ein für allemal zeigen, wer hier das Sagen hat!" schrie der Novize zurück. Die Hufe seines Pferdes berührten wieder festen Untergrund und Samut schlug es so heftig, dass es mit einem Sprung die letzen Felsen hinter sich brachte.

Amir sah es, er sah es zu genau. Alle Einzelheiten der unheilvollen Bewegung. Samuts Tier glitt auf den letzten Metern aus. Es bäumte sich erneut auf, warf seinen wuchtigen Kopf plötzlich nach hinten. Sein Reiter wurde von ihm voll getroffen und stürzte über die Hinterhand zu Boden, während das Pferd sich verzweifelte bemühte, das Gleichgewicht wieder zu finden. Doch es hatte den Zenit überschritten. Mit einem Schrei, der Amirs Ohren zu sprengen schien, kippte es nach hinter und überschlug sich den Hang hinab.

Shaitan sprang aufgeregt zur Seite als das andere Pferd vor ihnen zu liegen kam. Die Welt stand still, kein Ton in der Wüste. Amir stieg hastig ab und rannte auf Samut zu. "Du verdammter Idiot, ich bringe dich um, du Mistkerl, du Sohn eines Hundes, bei Allah, ich schwöre du wirst leiden!" schrie er und prügelte auf den ohnehin fast besinnungslosen Samut ein. Dieser brachte gerade noch die Kraft auf, schützend die Händer vor sein Gesicht zu schlagen. Amir hörte augenblicklich auf, erhob sich und starrte in einer Mischung aus Ekel und Hass auf den anderen Novizen herab. "Du bist ein Feigling und du bist es nicht wert!" Damit spuckte Amir mitten in Samuts Gesicht und ging zu dem verletzten Pferd.

 

Stöhnend lag es auf der Seite, die Augen zu schrecklichen weisen Löchern verzerrt. Es musste unglaubliche Schmerzen haben. Amirs Finger fuhren zitternd über die weichen Nüstern und eine Träne fiel auf die Mähne herab. Shaitan wieherte leise. Jene Schüler, die am Ziel gewartet hatten, hatten den Unfall gesehen und waren völlig erstarrt, bis Amir anfing Samut zu schlagen. Sie kamen nun gelaufen und trafen beinahe gleichzeitig mit dem Publikum vom Start bei Amir ein. Özcan wurde am Ohr aus ihren Reihen gezogen und auf den Boden geworfen. Korkut Umat war rasend. Diese dummen Jungen, diese kleinen Narren! Was hatten sie nur angestellt? Schroff schritt er zu Amir, packte ihn an den Schultern und zerrte ihn hoch. "Seid ihr verrückt geworden? Was habt ihr euch nur dabei gedacht?" schrie er ihn an, während er den Jungen wie ein Besessener schüttelte. Amir ließ es über sich ergehen, eine Weile lang. Dann legte er die Hände auf die Arme des Lehrers und sah ihn direkt an. "Gebt mir euer Schwert." bat er leise. Korkut war außer sich. "Genug, es ist genug sage ich! Ich werde nicht zulassen, dass zwei dumme Jungen meine Pferde verletzen und sich gegenseitig niedermetzeln, weil der Hafer sie sticht!" In Amirs Augen lag endlose Trauer und diese bewog Korkut wohl, ihm das Schwert wortlos zu reichen, als der Junge weiter zu ihm sprach: "Es leidet, mein Bruder. Lass es mich bitte beenden."

Niemand bewegte sich als Amir sich wieder dem verletzen Pferd zuwandte. Niemand wagte es mehr ihn aus zu lachen.

Das erste Leben, dass Amir Ibn La-Ahad jemals nahm, war das eines sterbenden Pferdes.

 

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*(Zitat von Sigmund Graff)