9. Teile des Ganzen

9. Teile des Ganzen

Die flüsternde Dunkelheit der Wüste hinterließ Unruhe in dem jungen Soldaten. Wo er herkam, waren die Nächte laut, voll von den unzähligen Geräuschen einer Stadt, dem Heulen des Sturmes in der Bergenge. Hier war die Landschaft weit, uneingrenzbar und die leisen Stimmen, die er manchmal zu hören glaubte, schienen aus unendlichen Entfernungen von einer lauen Bewegung der Luft an ihn herangetragen zu werden, die die Bezeichnung Wind nicht verdient hatte. So heiß es tagsüber auch immer war, des Nachts wurde es empfindlich kälter und der ständige Wechsel zerrte an seinen Nerven.
Niemand hatte ihn je gefragt, ob er für Salad al Dhin in den Krieg ziehen wollte, man hatte es einfach in seiner Abwesenheit über seinen Kopf hinweg entschieden. Dem Sohn eines großen Feldherren gebührte nichts anderes, als für den Herrn in den Kampf zu ziehen, selbst wenn er erst siebzehn Jahre alt war. Er hasste Jersualem schon, bevor er dorthin versetzt worden war und dass er dazu eingeteilt wurde, an den Grenzen des Königreiches zu wachen, machte die Lage um keinen Deut besser.
Er war nicht allein hier draußen, seine Kameraden warteten nur wenige Meter entfernt in einem Zelt auf ihn, um das Kartenspiel nach der obligatorischen Kontrollrunde wieder aufzunehmen, doch etwas hielt ihn zurück, schnell wieder zu ihnen zu verschwinden. Oft wirkte es für ihn so, als würden sich die Schatten bewegen, meist eine Spiegelung seines Unwohlseins, nicht mehr als eine optische Täuschung. Diesmal aber wirkte alles etwas anders, auch wenn er es nicht benennen konnte. Der Junge fühlte, dass ihn aus der Dunkelheit jemand anstarrte, hatte jedoch keine Ahnung, wo sich derjenige befand und ob es überhaupt ein Mensch war. Unter den jungen Soldaten ging die Mähr von schrecklichen Tieren, die Nachts um ihre Zelte schlichen, um an ihnen ihren Hunger auf Fleisch zu stillen. Die Angst, die Hans fühlte, war rießengross, aber er war wie gefesselt und konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Panisch wartete er darauf, dass das Ungeheuer sich zeigen würde.

Altair war in diesem Land aufgewachsen, er empfand die Wüste stets als Zeichen der grenzenlosen Freiheit, liebte ihre stille Berührung und die Einsamkeit, die man in ihr finden konnte. Nur das er letztere auf seiner Reise nach Jerusalem missen musste. Die ersten beiden Attentate hatten die Aufmerksamkeit der Kriegsherren wieder etwas erhöht, auch wenn sie noch nicht entschieden, gegeneinander loszuziehen. Vorerst verstärkte sie nur die Truppen, die die Straßen im Königreich kontrollierten, und setzten damit fort, sich aufzurüsten.
Es hatte immer einen gewissen Reiz für ihn besessen, die Soldaten zu verärgern, die Kraft in sich zu spüren, wenn er gegen die wütenden Verfolger kämpfen, sie vernichten konnte. Der Assassine hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wer die Männer waren, denen er auf diese Weise das Leben nahm, der Orden duldete es schließlich durchaus, dass das Fußvolk der Ziele dezimiert wurde.
Jetzt, als Altair sich nicht weit entfernt von einem von ihnen unter einem Felsvorsprung verbarg, fanden das erste Mal seit Langem Gedanken über diese Dinge ihren Weg in sein Bewusstsein. Die Sarazenen schonten ihre erfahrenen Kämpfer und ließen junge Rekruten die Grenzen bewchen, viele vertraten die Auffassung, dass es die beste Art des Lernens war, einen Burschen von der Straße zum Mann machen zu lassen. Der Wächter, den der Assassine zu umgehen suchte, zählte wohl nicht mehr als fünfzehn Jahre, zumindest sah er so aus und in seinem Gesicht konnte er trotz des spärlichen Lichts die Angst und Unsicherheit erkennen, die der Junge fühlen musste. Es wäre ein leichtes gewesen, ihn einfach mit einem Wurfmesser zu töten und seine Kameraden, die sich lautstark im Zelt unterhielten, hätten nichts davon gemerkt, aber Altair entschied sich anders. Dieser junge Narr würde nicht durch seine Klinge den Tod finden, dass würden die Kreuzritter noch früh genug erledigen. Vielleicht blieben ihm vorher noch einige Monate, das Leben auszukosten.
Die Grundausrüstung seines gegenwärtigen Ranges erlaubte an sich keine Betäubungsgifte, wer nicht richtig mit ihnen umzugehen vermochte, konnte durch ihren Gebrauch leicht entdeckt werden, denn ein fehlgeleiteter Giftpfeil im Oberschenkel eines Opfers konnte verheerende Schwierigkeiten mit sich bringen. Trotzdem hatte Altair einige wenige aus dem Waffenlager Maysafs entwendet, schließlich sollte er seine Aufträge möglichst sauber ausführen und niemand würde davon erfahren, denn er hatte vorsorglich die Aufzeichnungen des Waffenmeisters gefälscht. Nun zog er einen der Pfeile mit spitzen Fingern aus dem Leder, mit dem sie umhüllt waren und führte ihn vorsichtig in ein Blasrohr ein. Eine Berührung der Spitze und die Wächter hätten ihn bei Sonnenaufgang tief schlafend gefunden.
Der Junge gab endgültig das Starren in die Schatten auf und kehrte zu dem Zelt zurück, um sich wieder aufzuwärmen, als er ein zischendes Geräusch wahrnahm und herumfuhr. In der nächsten Sekunde sank er langsam zu Boden und erzeugte zu wenig Knall, um die anderen zu alamieren. Der für den Nacken bestimmte Pfeil steckte nun in seiner Kehle und Altair seufzte leiste. Er war wohl bestimmt selbst dann den Tod zu bringen, wenn er es gar nicht beabsichtigte.  
Shaitan folgte ihm leise schnaubend, als er an dem Zelt vorbeischlich. Der Hengst vermochte seine Hufe derart lautlos in den Sand zu setzen, als wäre er ein Vogel und kein Pferd, kam aber auf diesem steinigen Stück des Pfades besser so voran, wenn er keinen Reiter trug. Sein Herr musste ihn nicht führen, er folgte den Bewegungen, die der Assassine unternahm, ebenso wie ein treuer Hund.
Altair ließ Shaitan nur ungern so weit außer Reichweite zurück, aber näher an die Stadt heranzureiten, wagte er vorerst nicht. Bestimmt war die Bewachung Jerusalems nur noch stärker geworden und er wollte keine Aufmerksamkeit vor seinem Attentat erregen. Also hielt er auf einen Bauernhof in einem Vordorf zu, der von großen Gattern umgeben war. Wieder brauchte es nur die Überzeugungskraft von wertlosem Metall, wie er Geld zu nennen pflegte, um dem Hengst eine sichere Bleibe und genug Nahrung bis zu seiner Rückkehr zu verschaffen.
Diese Nacht verbrachte der Assassine schlaflos in einem Heuhaufen neben dem Pferd und suchte nach Phrasen, die er an Malik richten konnte, fand aber keine Worte für das, was gesagt werden musste. Shaitan frass genüsslich, hie und da stieß seine weiche Schnauze an Altairs Stirn und der warme Atem des Tieres fuhr über sein Gesicht.
Er hatte sich niemals entschuldigt, nicht wirklich, Zeit seines Lebens hatte er wenn nur unter Zwang Fehler eingestanden und so fehlte ihm die Fähigkeit, einfach gerade heraus über seine Verfehlungen zu sprechen. Egal was er auch sagen würde, an der Situation konnte er nichts mehr ändern und das war es, was er stets so sehr gehasst hatte. Das Leben nahm seinen Weg, es hatte es schon getan lange bevor er geboren wurde, und es zeichnete die Geschichten der Menschen, ohne dass sie einen Einfluss drauf hatten.
Altair hatte begonnen, dieses Gefühl mit dem Töten zu bekämpfen, er spuckte dem Schicksal ins Gesicht, wenn er Ziele eliminierte, für die es noch etwas vorgesehen hatte. Die meisten von ihnen waren namenlos, gesichtslos für den Assassinen geblieben, nur die beiden letzten wollten nicht so recht aus seinem Bewusstsein weichen. Es war, als hätte ihr Tod ihm etwas mitzuteilen, als würden unsichtbare Fäden zwischen ihnen und dem Meister bestehen, ein gewaltiges Dreieck, in dessen Mitte die seltsame Kugel stand, die sie alle begehrten.
Zu vieles, um sich darüber klar zu werden, zu spät um sich einfach zurückzuziehen und das Fragen aufzugeben. Morgen würde er Malik Rede und Antwort stehen und hoffen, dass von ihrer Freundschaft noch etwas geblieben war.

Es war nicht viel, das Malik al Sayr noch mit dem Mann verband, der verantwortlich für den Tod seines Bruders war. Nur das Versprechen, dass er einst Cihan gegeben hatte, fesselte ihn noch an Altair, und die Hoffnung die in ihm wuchs, sollte sich die Prophezeihung erfüllen. Der Verbindungsmann hatte nie mit seinem ehemaligen Schüler darüber gesprochen, dass es mehr war, was Cihan verlangt hatte, als den damals noch kleinen Jungen nach Maysaf zu bringen und für seine Ausbildung zu sorgen. Der Jüngere hatte keine Ahnung davon, dass alles Bestreben, dem das Handeln des Verbindungsmannes zugrunde lag, dazu diente, ihn am Leben zu erhalten, bis die Zeit reif war.
Malik zog unsichtbare Fäden um Altairs Weg über die Jahre, in denen sie sich getrennt hatten, zu folgen und wusste mehr über seinen Freund, als diesem lieb gewesen wäre. Früher war es echte Sorge um den Anderen gewesen, jetzt wurde der Verbindungsmann nur noch von kalter Berechnung dazu gezwungen, Boten zu bestechen, hektische Briefe zu schreiben und den Kämpfer den Rücken freizuhalten, so weit es ging. Er hatte alles riskiert, als er Al Mualim um Altairs Leben bat, sogar dass der Plan scheitern und durchschaut werden würde, aber der Alte war zu konzentriert auf den Edensplitter, sah nicht was sich um ihn zusammenbraute. Entgegen aller logischen Gedanken spürte Malik, dass er weiterhin seinem Versprechen folgen würde, auch wenn er den Mann, der nun zu ihm trat, am liebsten mit einem einzigen Streich seines Schwertes zerschmettert hätte.

Früher waren Momente ihres gemeinsamen Schweigens geprägt von stillem Einverständnis gewesen, jetzt herrschte eine Kälte zwischen ihnen vor, die kein Übereinkommen zuließ. Malik hatte sich aufgerichtet und sah dem Assassinen direkt in die Augen, keine Wärme, beinahe auch kein Erkennen lag in diesem Blick. Altair versuchte, einen Beginn zu finden. "Friede sei mit dir, mein Freund!" Die Antwort fiel kühl und nicht ganz so aus, wie erwartet. "Eure Anwesenheit stört meinen Frieden!" Es waren weniger die Worte selbst, als die förmliche Anrede, die Malik wählte, sie verletzte Altairs Stolz und er fühlte alte Härte in sich aufsteigen.
"Wo ist Jadwa?" fragte er in Ermangelung einer besseren Idee. "Hättet ihre meine Briefe gelesen, wüsstet ihr, was vorgefallen ist! Doch genug davon, ich hörte, Al Mualim hat euch her geschickt, um niedrige Aufgaben zu erfüllen und euch so reinzuwaschen. Wen sollt ihr auslöschen?" war die Erwiederung seines Freundes, die restlos jede Hoffnung darauf zerstörte, dass Malik ihm noch eine Chance geben würde.
Ungewollt reagierte der Assassine eher steif als verärgert auf die förmliche Anrede. "Einen Mann namens Talal. Hör zu, wir müssen darüber reden, was....!" erneut wurde er unterbrochen.  "Nein, Altair Ibn LaAhad, wir müssen über gar nichts sprechen, was zwischen uns zu sagen war, ist längst erledigt. Ich kenne diesen Talal nicht, zumindest nicht näher, aber wenn ihr euch ein wenig umhört, werdet ihr mit Sicherheit bald mehr wissen. Wisst ihr noch, wo ihr zu suchen habt, oder muss ich euch helfen, Bruder?"
Dieses letzte Wort verletzte Altair mehr als die herablassende Art, die Malik plötzlich zur Schau stellte und unweigerlich wurde seine Kühlheit von seinem Zorn durchbrochen, erlag er einem alten Laster. "Wie ihr meint! Ihr werdet noch sehen, was es bringt sich wie ein beleidigtes Kind zu benehmen. Ich hoffte mit euch von Mann zu Mann sprechen zu können, aber ich habe mich wohl geirrt! Ich brauche eure Hilfe nicht, um meine Arbeit zu erledigen!" Die bissige Antwort des Anderen folgte ihm, als er sich auf dem Absatz herumwand und das Zimmer verließ. "Ihr konntet euren Hochmut über euren Tod hinaus retten. Meinen Glückwunsch, Altair!"

Eigentlich hätte er rasend sein müssen, doch der Assassine fühlte sich nur müde, enttäuscht von sich selbst. Er hatte geglaubt, bereits niedergerungen zu haben, was ihn einst von seinem Weg abgebracht hatte und doch hatte die Wut wieder Macht über ihn gewonnen. Gerade nun hatte es passieren müssen, war er sich selbst erlegen. Es würde keinen Zweck haben, mit demütigeren Worten wieder zurückzukehren, sie waren endgültig von Freunden zu Brüdern geworden. Vielleicht konnte eine makellose Ausführung seiner Attentate wenigstens eine Art von Respekt in Malik hervorrufen, die einem anderen Ordensmitglied gebührte.
Die Sarazenen hatten Jerusalem wieder in den Schlaf geschickt, in dem es jahrtausende lang schon geweilt war. Nach den etwas chaotischen Versuchen der christlichen Herrscher, die Bevölkerung zu missionieren, waren die Bürger froh, dass ihr Tagesablauf nun wieder von strengen Regeln und Bekräftigungen ihres Glaubens bestimmt wurde.
Saladin sorgte für Ruhe auf den Straßen, förderte aber gleichzeitig den Handel und den Ackerbau des Königreiches, um über eine Mischung aus absoluter Kontrolle und langsam wachsendem Wohlstand die Stadt zum blühen zu bringen. Viele Söhne Jerusalems waren in seinen Dienst getreten und patroullierten nun stolz mit dem Zeichen der Sarazenen durch ihre Heimat. Sie mischten sich mit den Soldaten, die in harten Schlachten gegen die Kreuzritter gekämpft hatten, wurden verwirrt von den mythenschwangeren Erzählungen und sogen die Philosophie Saladins bereitwillig in sich auf.
Der Vorteil, den Altair in Stätten unter der Herrschaft der Christen nutzen konnte, war hier nicht gegeben. Im Gegensatz zu ihren Feinden waren die Assassinen für die sarazenischen Wächter keine fremde, beinahe mysteriöse Macht, sondern gewiffte Attentäter, die man durch genaue Beobachtung und höchste Konzentration enttarnen konnte. In Jerusalem musste er bedeutend vorsichtiger vorgehen, um ungesehen zu bleiben. Altair mied alle Orte, an denen viele Menschen weilten, er streifte durch jene Gassen der Viertel, in denen sich größtenteils Wohnhäuser befanden. Diese Stadt hatte einen eigenartigen Weg, sich mitzuteilen. Ihre Bewohner waren geübt darin, Geschichten zu erzählen und mangels großer Ereignisse in letzter Zeit würden sie nun all jene Kleinigkeiten austauschen, die wie das Lebenselexier Jerusalems wirkten. Nur die Gegenwart hielt die Metropole davon ab, wieder im Staub der Vergangenheit zu versinken.
Der Assassine hatte sich einige Tinkturen von einem Heiler geholt und zog nun als Hausierer von Tür zu Tür und erfuhr so vielerlei, dass sicherlich nützlich für Malik sein würde, jedoch nichts, dass ihn selbst weiterbrachte. Er bog in die nächste Gasse und steuerte auf ein Mädchen zu, dass einen Krug mit Wasser mühevoll in ein Haus zu transportieren versuchte. "Kann ich euch behilflich sein?" fragte er freundlich, erntete jedoch keine Aufmerksamkeit. Die schlanke Gestalt zerrte einfach weiter an ihrer Last, warf ihm nur hier und da einen ängstlichen Blick zu. "Ihr braucht euch nicht zu fürchten, ich bin ein einfacher Händler! Benötigt ihr Medizin für vielerlei Leiden?" Die Stimme des Mädchens wirkte dünn und brüchig, als sie hastig flüsterte: "Nein, geht, bitte, ich kann nicht mit euch sprechen!"
Eine große, dicke Frau mit geröteten Wangen erschien in der Tür des Hauses und hielt argwöhnisch Ausschau nach dem Dienstmädchen. "Aisha, mit wem sprichst du da?" Ihr flache Hand traf den Hinterkopf der Angesprochenen, die Altair flehentlich anblickte. "Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht mit Fremden unterhalten? Scher dich hinein und tu deine Arbeit, oder mein Mann wird von deiner Faulheit erfahren, wenn er abends zurückkehrt!" Schnell packte Aisha den Krug und hievte ihn mit einem Ruck in den Flur, verschwand in einem Zimmer. Ihre Herrin wandte sich dem Fremden mit in die Hüften gestemmten Armen zu. "Also was seid ihr, ein stiller Verehrer? Vergesst es, die Kleine hat keine Zeit für Romanzen, sie hat zu arbeiten!" "Verzeiht, werte Dame, wenn ich einen falschen Eindruck erweckt habe!" entgegnete der Assassine schlicht. "Ich bin hier, um euch für guten Preis einige Kräutermixturen anzubieten, die gegen kleinere Beschwerden helfen!"
Das Gesicht der Frau klärte sich auf und ihr Ton wurde weniger schrill. "Oh, sagt das doch gleich! Habt ihr auch Gewürze?" "Nein, leider, aber wenn ich euch später noch einmal beehren kann, werde ich welche mit mir führen! Allerdings könnte es recht spät werden..." Menschen waren manchmal wie Marionetten in seinen Händen, Altair wusste wie sie reagieren würden und konnte sie so ohne Druck dorthin führen, wo er sie haben wollte. "Ich pflege früh zu Bett zu gehen, aber ich werde Aisha anweisen, auf euch zu warten! Sie wird ohnehin ihr Tagespensum nicht erfüllen, dann kann sie wenigstens das Versäumte nachholen!"  "Freut euch, ein solch tüchtiges Kind zu haben, die meinen sind nicht so hilfsbereit!" Kurz blickte die Frau verwirrt, verstand dann aber. "Oh, ihr denkt sie sei meine Tochter? Nein, nein, ich habe keine Kinder, das Mädchen habe ich lediglich bei mir aufgenommen, weil ihre christlichen Eltern Jerusalem flüchtend verließen und sie alleine zurückblieb. Sogar einen neuen Namen habe ich ihr gegeben, damit sie sich besser einlebt, aber das undankbare Balg träumt lieber anstatt zu arbeiten!" "Also habt ihr sie alleine auf der Straße aufgelesen?" "Aber nein, ich nehme doch keine dahergelaufenen Bettler in mein Haus auf! Sie wurde mir von einem Mann empfohlen, der sich um die christlichen Waisen bemüht, er heißt Talal!"
Wieder einmal war der Instinkt des Assassinen richtig gelegen. "Und wo finde ich diesen Herren? Meine Frau könnte gewiss auch etwas Hilfe brauchen und vielleicht können wir einem dieser armen Geschöpfe ein zu Hause bieten!" Die Dicke war redselig geworden, von ihrem ursprünglichen Argwohn war nichts mehr geblieben. "Geht einfach zu dem alten Handelsplatz im Nobelviertel. Talal führt seine Schützlinge jeden Tag dorthin, um jemanden zu finden, der sich um sie sorgt! Aber," fügte sie verschwörerisch leise hinzu, "lasst euch nicht von seinem ersten Angebot abbringen, für das Gör habe ich noch einen guten Preis herausgeschlagen!"
Altair verabschiedete sich mit dem Versprechen, die Kräuter zu besorgen, verließ aber die Straße nicht völlig, sondern wartete bis die Frau wieder in das Haus getreten war. Dann gelangte er mühelos über die Dächer zu dem Hinterhof, den sie ihr Eigen nannte und der einen kleinen Hühnerstall beherbergte. Das Mädchen war dabei, den Verschlag zu säubern , bemerkte nicht, dass jemand hinter sie trat. Erstals sie in den Stall gedrängt wurde und eine starke Hand sich über ihren Mund legte, wurde sie der Situation gewahr.
Aisha, die eigentlich Christine hieß, konnte den Angreifer im Halbdunkel nicht erkennen, spürte aber seinen Atem im Nacken. Sie versuchte erst gar nicht sich zu wehen, hoffte eher dass es ebenso schnell vorbeigehen würde, wie wenn der Ehemann ihrer Herrin über sie herfiel. Zu ihrer Überraschung machte der Fremde jedoch keine Anstalten unsittlich zu werden, sondern sprach beruhigende Worte. "Sei ganz leise, ich werde dir nichts tun! Ich habe lediglich ein paar Fragen und wenn du sie beantwortest, werde ich ebenso schnell verschwinden, wie ich gekommen bin!" Chrsitine wagte immer noch nicht sich zu bewegen. "Ich werde dich jetzt loslassen und du wirst dich langsam dorthin setzen! Wenn du nur eine falsche Bewegung machst, bin ich gezwungen zu handeln, also überlege dir gut, ob du wirklich schreien willst!" Es war keine wirkliche Drohung, eher eine Feststellung, besaß aber als solche um vieles mehr Gewicht. Folgsam ließ sich Christine sofort zu Boden, als der Griff gelockert wurde und vermied es, den Angreifer anzusehen. Dieser zog sich noch weiter in die Schatten zurück und fuhr leise fort.
"Du bist kein einfaches Dienstmädchen, sondern eine Sklavin, oder?" Zögerlich antwortete das Mädchen: "Ja, Herr. Ich wurde von meiner Herrin für den Gegenwert einiger Münzen erstanden." "Woher stammst du? Du bist nicht von hier, scheinst mir eher eine Europäerin zu sein." "Mein Vater war ein christlicher Adeliger. Er ließ meine Mutter und mich nach der Eroberung Jerusalems hierher holen, um ein neues Leben im gelobten Land zu beginnen. Er fiel, als die Sarazenen zurückschlugen. Meine Mutter nahmen sie mit sich, aber sie flehte, dass sie mich verschonen sollten, also ließen sie mich gehen."
Der Assassine spürte, dass Christine kurz vor der Panik stand und beeilte sich, wieder näher an sie zu kommen. "Und wie bist du schließlich in diese missliche Lage gelangt?" Das Mädchen versuchte herauszufinden, welchen Verlauf dieses Gespräch nahm, verstand aber immer noch nicht, worum es ging. "Mein Meister, Talal, hat mich aufgelesen. Er sprach davon, dass er für Kinder wie mich sorgen würde. Ich war hungrig und müde, also bin ich ihm gefolgt...." Sie brach ab und presste ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Der Fremde berührte sie vorsichtig an der Schulter. "Ihr habt keinen Schutz vorgefunden, wie es scheint."
Leise Tränen rollten an ihren Wangen herab, als Christine sich erinnerte und ihre Stimme bekam mehr Sicherheit, wurde gefärbt von Hass. "Nein! Hätte ich gewusst, wie der Meister für meinesgleichen zu sorgen pflegt, wäre ich schnell weggelaufen! Er brachte mich in ein großes Haus, wo er mich in einen kleinen Käfig zu anderen sperrte. Dort musste ich wochenlang bleiben und erfuhr allmählich, was mich erwarten würde. Talal verkauft uns als Leibeigene an Bauern, Händler und Adelige und ich hatte noch Glück! Einige der anderen Mädchen wurden als Sklavinen an die Soldaten überstellt und ich möchte mir gar nicht ausmalen, was sie bei ihnen zu erdulden haben!"
Christine weinte jetzt ungehemmt, schluchzte atemlos, fasste sich aber schließlich wieder, zog trotzig durch die Nase hoch und beschloss, dass es nun an ihr war, Fragen zu stellen. "Ihr werdet mich nicht retten, oder? Auch nicht, wenn ich euch darum bitte!" Altair war gerührt von der Klahrheit, mit der sie diese Worte sprach. Langsam hockte er sich vor sie, nahm ihre Hände in die seinen und ließ es zu, dass sie eine Seite seines Gesichtes erkennen konnte. "Du bist noch so jung und wirst noch lernen, dass das Schicksal seine Wege alleine finden muss. Es hätte keinen Sinn dir zu helfen, ich kann dich nicht mit mir nehmen und auf der Straße wirst du nur allzuschnell wieder in Gefangenschaft geraten. Glaub mir, einmal wird der Tag kommen, an dem du dich selbst befreien wirst, doch bis dahin musst du dich damit zufriedengeben, dass dein <Meister> Vergeltung für seine Taten erfahren wird."  
Ein kleiner Lichtstrahl drang durch die Wandbretter und traf Altairs Hals, an dem das Zeichen der Assassinen baumelte. Christine wurde für einen Moment geblendet, dann schloss sich seine Hand darum und schob es wieder unter die Kutte zurück. Ihr Vater war fasziniert von den Kulturen des Orients gewesen, er hatte alles gesammelt, dass er über sie finden konnte und sie hatte oft in seinen wirren Aufzeichnungen gelesen. Daraus wusste sie, wen sie hier vor sich hatte. Binnen Sekunden verflog ihre Verzweiflung und der Hass schlug erneut durch. "Stoßt euren Dolch gleich zweimal zu, und vergesst dabei nicht meinen Namen!"

Weit entfernt von Jerusalem, in einem Lager in der Wüste, sammelte Richard, der König von England, seine Getreuen um sich. Jaffa war das nächste Ziel auf ihrem Kreuzzug quer durch das Heilige Land und er betete gemeinsam mit seinen engsten Vertrauten, um die Unterstützung des Herrn zu erlangen. Nur einer von ihnen blieb zurück, als Richard sie wieder entsandte, er stand in der Mitte des großen Zeltes hoch aufgerichtet und wartete darauf, das Wort erteilt zu bekommen. "De Sable, habt ihr ein Anliegen?" fragte der englische König den hochgewachsenen, jungen Templer, dessen Karriere in ihren Reihen steil bergauf gegangen war. Richard konnte sich noch gut daran erinnern, wie der Lehrer des Templers umgekommen war, beinahe schien es ihm, als hätte Robert seit diesem Ereigniss ungeahnte Kräfte entwickelt. Seine einzige Verfehlung lag darin, dass er den Feind verkannte, wie fixiert sprach er ständig von den Assassinen und ihrer ungeahnten Macht, wo Richard ihn doch so sehr für die Planung gegen die Sarazenen gebraucht hätte, es gab zu wenige Männer seines Formats.
"Mein Herr, mir macht der Tod Garnier von Nablus immer noch Sorgen! Was, wenn Saladin sich nun wirklich mit den Assassinen verbunden hat? Wir würden uns dann zwei Feinden gegenübersehen, von denen einer fähig ist, sich unerkannt unter uns zu bewegen! Ich könnte für unsere Sicherheit sorgen, wenn ihr mich erneut gegen Maysaf ziehen lasst!" Richard seufzte aufopferungsvoll. "Wieder dieses alte Thema? Robert, ich habe euch bereits gesagt, dass ich nichts mehr davon hören will! Gut, Al Mualim hat eure Pläne, mir den Schatz Salomons zum Geschenk zu machen, durchkreuzt, dennoch verstehe ich nicht ganz, wieso ihr derart auf ihn fixiert seid! Letztlich war es nur schnöder Tand, den wir an ihn verloren, und unsere Mission ist zu wichtig, als dass ihr euch dem Rausch der Rache ergeben solltet!" De Sable blieb unbewegt, in ihm aber zischten die Gedanken.
Dieser Narr hatte keine Ahnung, der große englische König glaubte immer noch, dass Jerusalem einzunehmen ihnen den Sieg bringen würde. Der Templer hingegen war einst Zeuge einer Begebenheit geworden, die alle Schlachten um Städte unsinnig werden ließ. Es gab einen einfacheren Weg, das Heilige Land für sich zu gewinnen, und nur wenige wussten davon. Dass Garnier einer von ihnen gewesen war, ebenso wie der kürzlich getötete Sarazene Tamir, war für den Templer von grandioser Wichtigkeit.
Al Mualim besaß das Artefakt und er würde es gegen jeden einsetzen, der seiner Macht erlag, sobald er alle aus dem Weg geräumt hatte, die um die Wichtigkeit des Edensplitters wussten, auch ihn, Robert de Sable selbst. Richard legte ihm Steine in den Weg und hätte der Templer gekonnt, hätte er sich seiner entledigt, doch er musste sich weiterhin an die Regeln des Spieles halten. Was seinen Orden von den normalen Kreuzrittern unterschied, war eine tiefere Bestimmung. Für die Templer ging es nicht darum, dass Land einzunehmen, in dem der Heiland ihres Glaubens geboren war, sie strebten danach, die Welt zu bestimmen und der Weg dorthin führte über den Besitz des Artefakts.
"Es ist keine Besessenheit, mehr ein unbestimmtes Gefühl! Wenn einer dieser Teufel fähig war, in Garniers Festung einzudringen und lebend wieder zu entkommen, wird er auch vor einem Anschlag auf euch nicht zurückschrecken! Erlaubt mir wenigstens, die Wachen zu verstärken! Wir müssen aufmerksam sein in diesen Zeiten!" antwortete de Sable schließlich mit unterschwelliger Freundlichkeit. Der englische König bereitete sich auf die Nachtruhe vor, er legte langsam seine Waffen ab. "Nun gut, Robert, wenn euch dies so dermaßen wichtig ist, will ich euch nicht im Weg stehen! Vergesst aber nicht, dass ich EURE Aufmerksamkeit morgen brauchen werde! Wenn wir Jaffa einnehmen, ist Jerusalem nur mehr wenig entfernt und Saladin muss reagieren. Einen neuerlichen Städtekampf um die Heilige Stadt möchte ich nicht eingehen, es wäre wünchenswert, seine Truppen schon in der Wüste schwächen zu können!" "Gewiss, mein Herr. Ich werde mein volles Bestreben darauf richten!" Mit einem knappen Nicken entließ Richard den Templer, der aus der schützenden Wärme des Zeltes in die eisige, klare Nacht trat und seinen Blick gegen den Himmel richtete.
Das Sternbild des Adlers stand leuchtend über den Dünen und Roberts Blick saugte sich auf dem hellsten Stern in ihm fest. Er würde das Artefakt an sich reißen, sobald sich Möglichkeit dazu bot und dann würde er es sein, der den Frieden über die Menschen brachte.

Schwaden von weißem Rauch zogen an Malik vorbei und er stieß einige weitere Kringel aus seiner Lunge in die Luft. So mancher der Bürder verachtete den Genuss von Substanzen, die den Geist auf Reisen schickten, er selbst wusste es durchaus zu schätzen, was seine Vorstellungskraft ihm zu zeigen vermochte. Es half, die Zeit erträglicher zu machen, das ständige Warten mit Sinn zu füllen. In den letzten zehn Jahren hatte der Verbindungsmann eine Menge Geduld bewiesen, aber nun, da alles zum Ende kommen würde, konnte er es gar nicht erwarten, dass eine neue Ära anbrach.
Wenn sie denn kam...Cihan war sich dessen so sicher gewesen, dass er seinen Schüler trotz des Risikos in seine Pläne eingeweiht hatte. Für Malik war es damals schwer zu verstehen gewesen, wie der kleine Sohn des Meisterassassinen in jene Vorgänge passen sollten, die schon seit Jahrzehnten ihren Lauf nahmen, doch inzwischen war ihm völlig klar, dass die Prophezeihung wahr werden würde. Altair war, wenn auch über Umwege, genau das geworden, was sie versprach und er würde, entgegen aller Umstände, erfüllen, was ihm von jeher auferlegt worden war. Maliks Aufgabe würde darin bestehen, ihn langsam an die Wahrheit zu führen, damit alles zur rechten Zeit geschah. Al Mualim war alt, aber nicht weniger schlau als damals. Cihan war es lange gelungen, ihn zu täuschen, aber eines Tages war alles aufgeflogen. Es war eine wahrhaft essentielle Idee gewesen, das sein Sohn nicht in Gefahr geraten würde, wenn er gar nicht wusste, was er zu tun bestimmt war.
Doch noch würde Malik nichts offenbaren dürfen, noch war der beste Zeitpunkt zuzuschlagen nicht gekommen. Diesen Gedanken festhaltend, bewegte er sich nicht von der Stelle, als Altair eintrat, er nahm lediglich einen weiteren Zug und versuchte, die Sache mit Kadar zu verdängen, was ihm gegenwärtig nicht gelang. "Ihr seid zurück," begann er trocken, "berichtet mir was ihr erfahren habt!" Der Jüngere folgte dem Befehl, hatte die Versuche, mit ihm zu reden, aufgegeben, was ihn einigermaßen überraschte. Vielleicht hatte Altair sich doch geändert, vielleicht war er zu etwas mehr Feingefühl gelangt.
"Talal ist ein Skalvenhändler! Er verkauft Menschen an die Wohlhabenden und hält sie in unwürdigen Zuständen gefangen!" "Das überrascht mich nicht. Ich hörte bereits, er sei kein angenehmer Zeitgenosse. Doch woher bekommt er die Skalven? Wer sind sie?" "Söhne und Töchter der Christen, die in der Schlacht um Jerusalem fielen. Er ließt sie auf der Straße auf, ködert sie mit Versprechen. Aber er macht auch vor seinem eigenen Volk nicht halt! Ich belauschte einige Männer, die ihm ebenfalls nach dem Leben trachten, weil er ihre Cousins, Söhne oder Väter in seiner Gewalt hält. Er verspricht den Menschen Arbeit und Wohlstand und die Leidenden fallen darauf herein! Man könnte meinen, dass selbst Saladin so etwas missfallen muss, aber er erfährt nicht davon, Talal zahlt die Stadtwächter, damit sie sein Handeln übersehen! Auch ist er ein Feigling, er lässt seine Männer für ihn sterben, während er selbst den Kampf nur aus sicherer Distanz mithilfe seines Bogens aufnimmt. Es wird kaum mehr Argumente brauchen, um eure Zustimmung zu seinem Tod zu erlangen, schließlich dient dies dem ganzen Land!"
Malik lehnte sich langsam zurück. "Nun ja, eigentlich könnte mir das auch ziemlich egal sein! Es sind Fremde, nicht unsere eigenen Leute. Und ihr werdet nicht umhin können zuzugeben, dass auch ein persönlicher Wunsch euch treibt. Sein Tod würde auch euch selbst zum Vorteil gereichen!" Altair verzweifelte an dieser neuen Art seines ehemaligen Freundes, mit ihm zu sprechen. Sie beide wussten, dass die Zustimmung zu dem Attentat an sich nicht mehr war, als eine Lektion, die Al Mualim seinem Schüler erteilen wollte. Das sein Befehl Talal zu beseitigen ausgeführt werden musste, unabhängig davon ob es Malik gefiel oder nicht, war völlig klar, dennoch versuchte der Verbindungsmann, ihn daran zu hindern. Unbeherrscht fuhr Altair ihn an: "Er muss sterben! Es existiert mehr hinter dem, was er vorgibt zu sein, dass spüre ich!" "Euer Gefühl hat euch schon einmal getrügt." Der Assassine verfluchte die Situation und wünschte, sie mit einem Duell klären zu können, doch in seinem gegenwärtigen Rang war es unmöglich, Malik zu einem solchen auffordern zu können. Altair war etwas auf der Spur, er wollte erfahren, wie es weiterging und wurde von Rängen und Titeln daran gehindert. Mit Staunen begriff er plötzlich, wie unwichtig derlei Dinge in Wahrheit waren, so sehr er auch früher darauf gepocht hatte. Immer noch war er der selbe Mann, immer noch hatte er die Fähigkeiten eines Meisterassassinen und alleine das war es, was zählen sollte, kein Ruf, keine Orden, kein Hauch von Größe.
Altair zog seine Schlüsse und lernte, mit Ehrhaftigkeit und nicht mit Stärke zu überzeugen. "Es liegt in eurer Hand, ob ich Talal exekutieren werde oder nicht. Ich habe keinen Anspruch darauf, dass ihr mir Glauben schenkt, aber ich kenne euch und ich vertraue alleine auf eure Treue dem Orden gegenüber, wenn ich euch mein Wort als euer Bruder gebe!"
Für Malik war diese kleine Änderung in dem Hochmut seines ehemaligen Schülers ein Zeichen. Das Ende lag wahrlich nah, bald würde sich entscheiden, ob Altair einen wahrhaften Charakter besaß und im Moment sah alles danach aus, als würde er sich bessern. Die Stimme des Verbindungsmannes war etwas sanfter diesesmal, den letzten Schritt, den Assassinen wieder vertraut anzusprechen, konnte er aber nicht überwinden. "Nun gut, das sollte mir genügen, auch wenn das mehr ist, als ihr verdient habt! Hier, nehmt die Feder und tut, was getan werden muss. Friede sei mit euch, Altair!" "Und mit euch!" erwiederte dieser sofort, froh über eine kleine Geste der Freundlichkeit.

<In der kalten Umklammerung der Nacht rieselten Sandkörner von einem Fels, bewegt von einem plötzlichen Windstoß, den zwei rasende Pferde mit sich brachten. Cihans Atem ging schnell, als er einen Blick über seine Schulter warf und das verwirrte Gesicht seines Lehrlings sah. "Warum müssen wir fliehen?" schrie Malik ihm über die Entfernung zwischen ihnen zu. "Weil ich den Fehler gemacht habe zu glauben, ich könnte über den Dingen stehen!">

Altair saß auf einer Bank auf dem Platz, auf dem Talal seine Geschäfte zu tätigen pflegte und wartete. Bewusst war er schon früh aufgebrochen, denn in ihm grub es und er tat sich schwer, Malik nicht mit Fragen zu verärgern. Auf dem Ritt nach Jerusalem hatte er ein bischen Zeit gefunden, über die Geschichten nachzudenken, die ihm über seinen Vater erzählt worden waren und stellte fest, dass der Schlüssel zu allem die Nacht darstellte, in der er Maysaf gen Akkon verließ. Der Verbindungsmann hatte einst behauptet, Cihan war ausgezogen seine Kinder zu holen, weil er von dem Verhalten ihres Großvaters erfahren hatte, aber Altair glaubte nicht mehr so recht daran. Viele hatten von einem Streit zwischen seinem Vater und dem Meister gesprochen, von Flucht, davon das Cihan ein Verräter war. Der Assassine konnte nicht sagen warum, aber er fühlte seine eigene Lebensgeschichte verwoben mit unfassbar großen Geschehnissen, denen er erst auf der Spur war. Warum hatte er plötzlich nicht mehr das Gefühl, ein Attentat einfach hinter sich lassen zu können? Warum nahmen die Gesichter seiner beiden Opfer immer wieder Gestalt vor ihm an? Eine Erinnerung, ein kurzer Gedankenblitz zuckte durch seinen Kopf, es war nicht seine Seele, die hier von der Vergangenheit sprach. Seit seinem Beinahetod hatte dieses Gefühl ihn nicht mehr beschlichen und Altair presste unvermittelt die Finger gegen die Schläfen, begann sie zu massieren.
Erst Talals Ankunft ließ ihn wieder klarer werden, mit dem Adrenalin kehrte die Konzentration zurück. Der Sarazene war bedeutend jünger als die vorgegangenen Ziele und schien nicht viel auf Prunk und Tand zu geben. Seine Kleidung war zweckmäßig, auffällig lediglich die dicke Lederpanzerung der Brust, über der ein Bogen ruhte. Talals scharfe Züge waren gekrönt von engen, stechenden Augen, perfekt für einen Schützen, die Stirn hoch, die Haare beinahe ganz geschnitten. Mit der trügerischen Sicherheit eines Mannes, dem nichts passieren konnte, führte er eine kleine Prozession von Menschen an, die zwar nicht gebunden, aber von Talals schwer bewaffneten Männern umgeben war.
Die Stadtwache war nirgends zu erkennen, Korruption bot eine willkommene Nebeneinnahme in diesen Zeiten.
Altair beschloss dennoch zu warten. Ein Attentat auf offener Straße hier in Jerusalem war zu riskant, die Sarazenen wussten, mit wem sie es zu tun hatten, wenn er sich so offen zeigte, also kam nur Geduld in Frage. Talal hatte Aufstellung vor einem kleinem Podest bezogen, hielt sich nicht mit einleitenden Worten auf. Wer vor ihm in der kleinen Menge stand, musste nicht darüber aufgeklärt werden, worum es hier ging. Beinahe gelangweilt winkte der Skalventreiber einen jungen Mann zu sich. Er war kräftig gebaut, seine Schritte jedoch verrieten, dass er lange Zeit schon in einer gebeugten Haltung verbracht haben musste. "Fangen wir an! Dieser Junge beherrscht Handwerk ebenso wie Schreiben und Lesen. Er kann ein nützlicher Diener sein, braucht kaum Nahrung  und widerspricht nicht. Wer hat Interesse?"
Altair war nicht überrascht, das Talals Geschäft mehr ablief wie die Versteigerung von Tieren, munter wurden Hände gehoben, deren Zeichen den Preis höher trieb, zufrieden namen die zukünftigen Herren ihre Untergebenen in Empfang, wenn sie gezahlt hatten. Der Assassine konnte nicht nachvollziehen, warum die Sklaven freiwillig so mit sich umspringen ließen, er selbst hätte sogar nach Jahren der Folter Widerstand geleistet, aber sie schienen alle gebrochen, unterjocht von ihrem Schicksal.
Fünf von ihnen wechselten auf diese Art und Weise ihren Besitzer, bevor der Sarazene die Verhandlung schloss und begann, sich mit seinen Männern zu beraten. Altair stieß sich von der Bank ab und wanderte betend an ihnen vorrüber, um das Gespräch zu verfolgen.
"...werde ich dass Lager heute noch inspizieren!" ließ Talal seine Unergebenen wissen. "Es wird Zeit, dass wir die Karawane nach Akkon vorbereiten!" Der Vermummte vor ihm änderte nervös seine Haltung. "Herr, wir bekamen vorhin eine Botschaft, die euch nicht gefallen wird! Garnier von Nablus ist tot, er wurde von einem Meuchelmörder ins Jenseits geschickt!" Das Gesicht des Sarazenen färbte sich weiß, er schnappte nach Luft, beeilte sich aber, sich wieder zu fangen. "Was ist mit den anderen? Ist Abu'l Nuqoud noch am Leben?" "Bisher gibt es keine weiteren Nachrichten über Anschläge." "Gut! Dieser verdammte Hund Al Mualim hat also begonnen, uns zu jagen. Sorgt dafür, dass niemand in meine Nähe kommt, der auch nur Ansatzweise wie ein Assassine aussieht!"
Talal wandte sich um und wurde von seinen Männern umringt, als er den Platz verließ. Hoch über ihm auf den Dächern folgte ein Schatten seinem Weg.

Es gab viele Grausamkeiten an Menschen, die Altair bekannt waren und er hatte früh festgestellt, dass sie alle den gleichen Effekt hatten. Ob einfache Schläge, Drogen oder völlige Unterdrückung, sie ließen die Opfer starr werden, nahmen ihnen den Handlungswillen und machten sie zu Marionetten.
Garnier von Nablus' Hospital war eine laute, schräge Ansammlung solcher Puppen gewesen, in Talals Lager jedoch herrschte völlige Stille. In einer langen Reihe von Käfigen, nicht mehr als einen Meter hoch und drei Meter breit, saßen Kinder, Männer, Frauen und starrten träge vor sich hin. Ihr stummes Leiden war keinen Deut einfacher zu ertragen, als die Wahnsinnigen und ihre wilden Ausbrüche. Altair hatte das Lager beinahe unbewacht vorgefunden, denn Talal hatte unterwegs kurz haltgemacht, um an einem Stand einige Dinge zu erstehen. Für den Assassinen war klar, dass er die Umgebung erkunden musste, in der er den Sklaventreiber zu töten suchte und er betrat das Gebäude über ein kleines Seitenfenster, nachdem er sich sorgfältig umgesehen hatte. Das Tor des Lagers stand weit offen, doch die Wächter, die er zuvor dort gesehen hatte, waren verschwunden.
Einige Sekunden lang beschäftigte diese Tatsache ihn, was ihn wieder zur Konzentration brachte, war eine Bewegung in den vielzähligen Schatten des großen Raumes, die er mehr spüren als sehen konnte. Er war sehenden Auges in eine Falle getappt und beschloss, sich später darüber zu ärgern. Seine Stimme schnitt tief durch die Luft, und er erhielt prompt Antwort.
"Was nun, Sklaventreiber?" "Nennt mich nicht so! Ich helfe diesen Menschen!" Die Türen des Lagers wurden verschlossen und das wenige Licht, dass durch sie gefallen war, zog sich zurück. Nur ein heller Abdruck des Fensters blieb zurück. "Indem ihr sie so behandelt?" Altair begann sich um seine eigene Achse zu drehen und einzuschätzen, wieviele auf ihn warten mochten. Er musste Zeit gewinnen, wenn er einen Plan entwickeln wollte.
"Ich bereite sie lediglich für ihre Reise in ein besseres Leben vor!" Talals Worte kamen von weit oben, er musste am anderen Ende der Halle auf einem Vorsprung stehen. "Ein Leben in Unterdrückung! Wie wohltätig von euch!" Ein überhebliches Lachen enfuhr dem Sklaventreiber. "Ihr begreift nichts! Wollt ihr denjenigen sehen, der auch euch gefangen hat, um euch in eine neue Existenz zu führen? Dann tretet in den Lichtkreis!" Der Assassine folgte den Worten, fühlte den Atem der Männer um ihn. Talal hatte zehn seiner Wachen in der Halle postiert, die nun einen engen Kreis um Altair schlossen, fühlte sich sicher und zeigte sich an einem großen Luke weit über seinem Gegner. Immer noch versuchte dieser, den unvermeidlichen Kampf hinauszuzögern. "Ihr habt mich nicht gebunden hier her gebracht, ich bin von selbst gekommen!" "Ach ja? Und warum habe ich wohl haltgemacht, damit ihr Vorsprung erhaltet?" Diese unangenehme Erkenntnis weckte den Zorn in Altair, auf den er gewartet hatte. Jetzt war er bereit, die Gegner zu erledigen. "Kommt her und kämpft wie ein Mann, Talal!"
Statt des Sarazenen zückten seine Männer die Schwerter. "Ich fürchte, ich kann euch nicht helfen! Ihr versteht, dass ich zuviel Verantwortung trage, um mein Leben zu riskieren. Warum muss euresgleichen nur immer Gewalt anwenden? Nun, da ihr schon damit begonnen habt, will ich es euch gleichtun. Tötet ihn!"

Im gleichen Moment, in dem die Gefolgsleute Talals vorsprangen, schleuderte auch der Assassine sich von der Stelle und zog sein Schwert noch während er sich über der Schulter abrollte. Nun war er wieder im Dunkeln, was ihm einige Sekunden Luft verschaffte, in denen die Gegner sich orientieren mussten. Dennoch würde dieser Kampf nicht einfach werden, dies waren keine Soldaten, die nur ihr Schwert als Waffe benutzten, diese Männer waren ebenso hinterhältig wie er selbst, was zur Folge hatte, dass die Situation sich zu einem Suchspiel im Dunkel entwickelte. Beinahe geräuschlos zog Altair weiter kleine Kreise und horchte angestrengt um sich. Das Flattern eines Ärmels warnte ihn nur Bruchteile bevor eine Hand von hinten seine Kapuze ergriff und versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sein freier Arm schoss nach oben, die Finger schlossen sich eisern um die des Angreifers und er drehte sich kraftvoll herum, während er gleichzeitig das Handgelenk des Mannes in eine äußerst unangenehme Position brachte. Der Andere wurde vom Schwung umgedreht und schrie grell auf, als Altair ihm mit voller Wucht in den Rücken trat, ohne dabei seinen Arm loszulassen. Danach brachte er gerade noch rechtzeitig sein Schwert nach oben, um die Klinge des nächsten Mannes abzufangen. Blitzschnell duckte sich der Assassine und rammte seine Schneide in Kniehöhe in die Beine des Anderen, auch dieser ging stöhnend zu Boden.
Talals Männer lernten sofort aus dem Geschehen und begannen nun, ihre Angriffe aufeinander abzustimmen, wurden jedoch plötzlich von einem hellen Gleißen geblendet. Zwischen ihren chaotisch umherzischenden Schwertern und harten Fäusten flog Altair wie ein Schatten herum und löschte einen nach den anderen von ihnen aus.

Als der letzte Kämpfer den Boden berührte, fokusierte der Assassine sofort sein Ziel. Talal war an die Luke getreten und hatte sie aufgestoßen, um seinen Männern den Kampf zu erleichtern, konnte dadurch auch das Schauspiel verfolgen, dass sich ihm bot.
Als Altair nun auf ihn zuschoss, fluchte er laut, fuhr herum und begann ebenfalls sofort zu rennen. Mit einem Sprung erreichte er eine kleine Straße, wandte sich nach links und hoffte, seinen Vorsprung ausnützen zu können. Sein Verfolger jedoch schloss erheblich schneller auf als erwartet, er hatte die Ebene gewechselt und rannte auf den Dächern parallel zu dem Sklaventreiber dahin.
Lange konnte das nicht so gehen, der Assassine wusste, was Talal versuchte zu tun. Wenn ihm die Stadtwache zu Hilfe kam, war sein Auftrag gescheitert und er wollte nicht erneut in Ungnade fallen.
Instinkt übernahm das Handeln und Altair unterwarf sich ihm völlig, nutzte diese uralte Kraft der Natur, um die Jagd zu beenden. Talal lief auf eine Wegkreuzung zu und verringerte nur unwesentlich seine Geschwindigkeit. Er musste binnen Sekunden entscheiden, ob er weiter durch die leere Seitengasse, oder über die vielbevölkerte Handelsstraße flüchten wollte. Eben als er sich nach links warf und versuchte, zwischen Wasserträgerinnen und Händlern unterzutauchen, setzte der Assassine auf einem Balken über ihm auf und stieß sich mit der gleichen Bewegung wieder kraftvoll davon ab. Noch im Laufen sah Talal zurück und erschrack maßlos, als ein immer größer werdender Schatten sich auf ihn niedersenkte und ihn mit einem gewaltigen Schlag zu Boden riß. Der Schmerz, den ein Dolch in seiner Kehle erzeugte, spürte er erst kurz später, als das Gehirn den schweren Aufprall überwunden hatte. Seine Muskeln konnten den Kopf nicht mehr halten und er fiel locker zur Seite. Um sich konnte Talal keine Menschen, keine Häuser mehr erkennen, alles war verhüllt von einem seltsamen Nebel und er fühlte sich schwebend.
Altair zog den Dolch zurück, kam neben den Sarazenen auf den Boden.
Ruhig legte sich eine seiner Hände auf das Kinn des Sarazenen und drehte den Kopf so, dass er ihn ansehen konnte. "Hier ist eure Flucht zu Ende, Talal! Alles was euch jetzt noch bleibt, ist eure Geheimnisse mit mir zu teilen!" Der Sklavenhändler war bereits schwach, raunte mehr als er sprach. "Glaubt ihr ernsthaft, dass ich das tun werde? Mein Tod wird die Bruderschaft nicht schwächen, wir sind zu viele!" Der Assassine hatte erwartet, dass sich ihm weitere Rästel bieten würden und ließ keinen Moment der Überaschung zu. "Von welcher Bruderschaft sprecht ihr?" Talals Finger fanden den Weg zu seinen, krallten sich an ihm fest. "Al Mualim ist nicht der Einzige, der Frieden über dieses Land bringen will! Er ist nur der schlimmste Bastard von allen! Und ihr...seht euch an! Ihr behauptet soviel besser zu sein als ich, tötet jedoch einfach, wenn es euch befohlen wird! Ich hingegen habe diesen Menschen geholfen! Sie brauchen Führung und Disziplin, wie sonst wollt ihr in einem Reich mit so vielen Religionen, so vielen Völkern den Frieden erreichen? Es braucht einen starken Mann, dem sie vertrauen können, der ihnen jedoch keine Freiheiten lässt!" "Und dieser Mann wollt ihr sein? Ihr profitiert doch vom Krieg!" Verachtung tropfte von Altairs Lippen, die von einem ebenso hochmütigen Grinsen erwiedert wurde. "So denkt ihr? Nun, dann habt ihr wahrlich bisher nichts begriffen!"
An Stelle des wahnsinnigen Glanzes in Talas Augen trat der gebrochene Blick eines Toten und Altair erwies ihm eine letzte Ehre, senkte die Lider. Er hatte gehört, was er erwartet hatte, sein Ziel bestätigte, was er vermutete. Die Liste betraf mehr als nur einzelne Widersacher unter unterschiedlichen Herren, es war eine Riege, die er dabei war auszulöschen. Eigentlich war es undenkbar zu glauben, dass Sarazenen und Templer gemeinsame Sache machen konnten, doch vielleicht hatte sich eine Gruppe zusammengefunden, die über die Ziele ihrer Führer hinauswollte.
Gleichzeitig mit seinen Gedanken setzte die normale Welt ihren Gang fort und Altair fing wie von selbst an, sich schnellstens von der Leiche wegzubewegen, was ob der schreienden, durcheinanderlaufenden Menschen nur schwer möglich war. Die ersten Wächter Saladins hatten den Toten bereits erreicht, als er noch nicht einmal die Straße verlassen hatte. Einer von ihnen sah sich um, registrierte die einzig ruhig wirkende Gestalt in einer Menge aus Panischen und schrie: "Ein Assassine! Tötet ihn!"

Flucht war für Altair stets ein Zeichen von Feigheit gewesen, es hatte ihn über alle Maßen angestrengt, sich stundenlang vor Verfolgern zu verbergen, es zerrte an seinen Nerven und seinem Stolz. Diesmal jedoch beachtete er die vergebene Chance, einige Soldaten zu töten, überhaupt nicht, denn sein Geist war schon weit fort, beschäftigte sich mit wichtigeren Fragen. Dem Assassinen gelang es zum ersten Mal in seinem Leben, mit sich selbst eins zu sein. Während sein Bewusstsein durch völlig andere Sphären streifte, reagierte sein Körper instinktiv wie jener eines Tieres auf alles um ihn. Als er diesem gewahr wurde, musste er sogar lächeln. Es war beinahe wie das Gefühl des Fliegens, wenn er so über die Dächer glitt, Häuserschluchten überwand.
All zu lange wollte er diesen Eindruck jedoch nicht genießen, die Sarazenen hatten viele Bogenschützen stationiert und hinter und vor ihm begannen Pfeile am Untergrund zu zersplittern. Einige Wächter folgten ihm durch die Straßen, andere versuchten direkt hinter ihm zu bleiben, doch wenn er erst einmal den Sichtkontakt für einige wenige Sekunden unterbrechen konnte, würden sie alle völlig ahnungslos über sein Verbleiben sein.
Mit Gewissheit näherte er sich einem bedeutungsschwangeren, alten Gebäude. Die Grabeskirche von Jerusalem erhob ihre Kuppel in die letzten Strahlen der Sonne, ein massiver Bau, neu aufgetragen zwar, aber mit Steinen jener Heiligen Bauwerke, die schon zuvor auf diesem Platz gestanden hatten. Sie war Teil der Legenden einer jeden Religion, die jemals um Vorherrschaft in Jerusalem gekämpft hatte.
Altair nutzte ein Gerüst, um auf die Kirche überzusetzten, wandte sich nach links und umrundete die Kuppel. Als er den Rand des Sichtbereiches der Wächter erreichte, schrien die Soldaten sich heisere Befehle zu. "Lasst ihn nicht entkommen!" "Da vorne ist er, schnell jetzt!"
Mit geschmeidigen Bewegungen brachte der Assassine die Wölbung des Daches zwischen sie, taxierte anhand der Sonne die Himmelsrichtung und raste ohne stehenzubleiben über den Rand der Mauern hinweg. Vom Wind des Fallens wurden ihm die Arme zur Seite gerissen, er drehte sich kopfüber in der Luft, rauschte den Rücke voran zu Boden und schloss die Augen, als er weich in einem Heuwagen landete. Seine Lehrjahre in Jerusalem hatten sich ausgezahlt, jetzt blieb nur zu hoffen, dass die Sarazenen diesen Trick noch nicht kannten.
Einige Minuten vergingen bis hektische Stimmen neben seinem Versteck auftauchten. "Das ist unmöglich! Er MUSS noch auf dem Dach sein, sonst hätten wir ihn gesehen!" Von oben klang ein Ruf herunter. "Verdammt, ich habe dir schon gesagt, dass dieser Bastard nicht hier ist! Was stehst du da rum, schwärmt aus, sucht ihn!"
Altair erlaubte es sich, ein wenig zur Seite zu rücken und so eine bequemere Position zu finden. Es konnte Stunden dauern, bis man die Suche nach ihm aufgab und er gedachte, sie sinnvoll zu nutzen. Er war also einem Bündniss auf der Spur, einer Vereinigung die Al Mualim kannte. Warum hielten diese Männer ihn für ihren schlimmsten Widersacher, denn das war es, was sie letztlich angedeutet hatten? Womit bedrohten sie den Orden der Assassinen oder den Meister selbst, dass er danach trachtete, sie alle schnell hintereinander zu eliminieren? Garniers Patienten in Akkon, die Sklaven Talals hier in Jerusalem, wenn er näher darüber nachdachte, schien es dem Assassinen beinahe als versuchte jemand, ein Heer von Willenlosen zu schaffen, um einen letzten entscheidenden Schlag in der Schlacht um das Heilige Land auszuführen.
Es wäre ihm leichter gefallen, diese Tatsachen einzuordnen, wenn er es mit einem klaren Feind zu tun gehabt hätte, aber ein Bündnis zwischen Templern und Sarazenen war undenkbar, dabei würden zwei unerbittliche Glauben aufeinanderprallen. War es möglich, dass ihre Ziele über den Bestrebungen ihres eigenen Volkes, ihrer eigenen Führer standen? Dass sie trotz aller Widersprüche einen Weg gefunden hatten, gemeinsam zu einem Ende zu kommen? Sollte dem so sein, war Altair völlig klar, warum sein Meister sie alle aus der Welt schaffen ließ. Friede über Unterwerfung war nicht das, wofür die Assassinen kämpften.

Neue Kräfte durchströmten ihn, als er zu Malik zurückkehrte. Langsam begann alles einen Sinn zu ergeben und trieb ihn an, weiter zu suchen. Altair fühlte sich sicher genug in seiner eigenen Version der Vorgänge um mehr zu riskieren als bisher. Der Verbindungsmann trat ihm diesesmal nicht mehr mit völligem Hass entgegen, wohl aber immer noch mit kühler Distanz. "Da seid ihr ja wieder!" warf er dem Assassinen zu, als dieser über die Dachöffnung in seine Räume kletterte. "Die Kunde von eurem Attentat hat mich ereilt, sowie wohl jeden in dieser Stadt! Gings nicht etwas undramatischer?" Mit seinem verbleibenden Arm malte Malik eine ausschweifende Bewegung in die Luft. "Die Menschen sprechen jetzt von einem Gespenst, dass Talal ermordet hat und sich danach in Luft auflöste!" "Er hat mich geblendet, schickte seine Männer vor und flüchtete danach feig. Nein, es ging nicht anders." antwortete Altair schlicht und trat entschlossen auf den Anderen zu. "Malik ich verlange von euch gehört zu werden!" Eine Sekunde lang geschah gar nichts, dann zuckten die Brauen des Verbindungsmannes leicht und er wandte den Blick ab. "Ich werde mit euch nicht über Kadar sprechen und wünsche nicht, dass ihr seinen Namen noch einmal erwähnt!" "Das ist nicht, worum es mir geht. Es betrifft etwas völlig anderes, eine Sache nur zwischen euch und mir!" Wieder folgte ein kurzes Schweigen, bevor Malik sich umwandte, an den Zimmerbrunnen trat und begann, kleine Tropfen Wasser, die aus der Öffnung an der Wand strömten, mit seinen Fingern zu teilen. "Es sei euch gewährt." antwortete er knapp.
Altair atmete tief ein und versuchte, nicht vorwurfsvoll zu klingen. "Ihr habt mich belogen. Einst habt ihr mir gesagt, mein Vater wäre nach Akkon gekommen, nur um mich zu holen!" "Das war keine Lüge." "Unterbrecht mich nicht!" Der Verbindungsmann war froh, dass sein Gegenüber sein Gesicht nicht sehen konnte. Malik hatte die Augen geschlossen und betete still. Er musste jetzt die Kraft finden, alle persönlichen Zwiespälte hinter sich zu lassen und die Situation zu meistern, denn alles woran er glaubte, worauf er hoffte, hing an Altair und der Wichtigkeit, dass er nicht zu früh die Wahrheit erfuhr.
"Cihan war auf der Flucht, als er sich Akkon zuwandte und ihr seid ihm gefolgt! Warum, Malik?" war der Assassine fortgefahren. Seine Augen bohrten sich tief in den Rücken des Anderen, seine Hände bebten. "Ihr habt mir nie vertraut, auch jetzt nicht, da ich euch erneut gerettet habe. Ich habe also keinen Grund, euch in meine Geheimnisse einzuweihen! Außerdem habt ihr ohnehin nicht die Zeit, euch mit langen Gesprächen über Vergangenes aufzuhalten, Altair, die Zukunft ruft euch!" "Was soll das heißen?" Malik griff in seine Robe und zog ein Pergament hervor. "Unser Meister hat dringende Befehle. Ihr werdet nicht nach Maysaf zurückkehren, sondern direkt nach Damaskus und Akkon reiten! Es scheint, dass die Zeit drängt. Die Kreuzritter haben Jaffar erobert und Salad al Dhin rüstet seine Truppen, um sie ihnen erneut entgegenzuschicken. Der Krieg hat noch kein Ende!" "Er wird nie zu Ende sein!" raunte der Assassine, griff nach der Botschaft seines Meisters und verließ Malik ohne einen Gruß.